Handicap und Politik 04/2022
Handicap und Politik 04/2022
In Handicap und Politik 4/2022: Rückblick auf die Sommersession 2022; Handlungsbedarf bei familienergänzender Betreuung; Engagements von Inclusion Handicap im ÖV-Bereich; Berichte von Reporter:innen ohne Barrieren.
Rückblick auf die Sommersession 2022: Nationalrat
Motion für fairere Invaliditätsbemessung von Nationalrat ohne Gegenstimme angenommen
Der Nationalrat hat die Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-N; 22.3377) ohne Gegenstimme angenommen. Bei der Motion geht es um die Ermittlung des Einkommens, das ein Mensch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zumutbarerweise erzielen kann. Dieses Einkommen wird bei der Berechnung des Invaliditätsgrads meist mit Hilfe von statistischen Werten (Tabellenlöhnen) bestimmt. Diese sind oft realitätsfern. Der Nationalrat hat die Motion ohne Gegenstimme angenommen. Damit hat er den Bundesrat unmissverständlich aufgefordert, zu handeln. Die Motion geht nun an den Ständerat. Die ständerätliche Sozialkommission bestätigte den Handlungsbedarf bereits klar.
Nationalrat spricht sich für Gebärdensprachgesetz aus
Der Nationalrat ist auf das Begehren seiner Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur eingegangen und spricht sich für die Anerkennung der Gebärdensprache durch ein neues Gesetz in Form einer Ergänzung des Behindertengleichstellungsgesetzes aus. Gesetzesgegenstand soll neben der Anerkennung und Förderung der Gebärdensprachen auch die Chancengleichheit in den Bereichen Information, Kommunikation, politische Mitwirkung, Dienstleistungen, Bildung, Arbeit, Kultur und Gesundheit sein. Inclusion Handicap hatte die Motion zur Annahme empfohlen. Nun entscheidet der Ständerat voraussichtlich im Herbst als Zweitrat über die Kommissionsmotion.
Begleitpersonen weiterhin von Begutachtungen ausgeschlossen
Ein Postulat von Barbara Gysi (20.3513) sollte den Bundesrat beauftragen, aufzuzeigen, in welchen Situationen Begleitpersonen zu Anhörungen, Befragungen und Begutachtungen zugelassen werden und wie sich die Anwesenheit der Begleitpersonen auf die Begutachtungen auswirkt. Der Nationalrat folgte jedoch dem Bundesrat, der die Erstellung des Berichts als nicht angezeigt betrachtete und lehnte das Postulat ab. Inclusion Handicap ist von dieser Entscheidung enttäuscht – Auswertungen der von Inclusion Handicap geführten Meldestelle zu den IV-Gutachten zeigen, dass Betroffene die Anwesenheit Dritter bei medizinischen Begutachtungen begrüssen würden.
Achtung der Rechte von Menschen mit Behinderungen bleibt eingeschränkt
Das aktuelle Erwachsenenschutzrecht ist in verschiedenen Punkten nicht konform mit der UNO-Behindertenrechtskonvention. So werden z. B. die medizinische Behandlung ohne Zustimmung der Betroffenen bei einer fürsorgerischen Unterbringung, die Behandlung einer urteilsunfähigen Person entgegen deren Patientenverfügung oder auch die Sterilisation von dauerhaft urteilsunfähigen Personen ohne deren Einwilligung geduldet. Der Bundesrat sollte deshalb untersuchen, wie das Erwachsenenschutzrecht mit den Forderungen UNO-BRK in Einklang gebracht werden könnte. Obwohl der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Anpassung unserer Rechtsordnung im März als prioritär eingestuft hatte, wurde das Postulat im Rahmen der Sommersession abgelehnt.
Parlamentarische Vorstösse zur Umsetzung der UNO-BRK
Eine Interpellation von Gabriela Suter (SP/AG) fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, wie sich europäische Normen, die beim Eisenbahnverkehr zunehmend angewendet werden, auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen und auf das Verbandsbeschwerderecht in der Schweiz auswirken. Die europäischen Normen gehen beim Schutz von Menschen mit Behinderungen deutlich weniger weit als das Schweizer Recht und beinhalten insbesondere Widersprüche zur UNO-BRK.
Mit dem Postulat «Rechtsgrundlagen mit der Behindertenrechtskonvention harmonisieren» beauftragt Gabriela Suter den Bundesrat zudem, aufzuzeigen, durch welche Gesetzes- und Verordnungsanpassungen die Widersprüche zwischen den geltenden Rechtsgrundlagen und dem Schweizer Behindertengleichstellungsrecht (inklusive UNO-BRK) beseitigt werden können.
Die von Manuela Weichelt (ALG/ZG) eingereichte Motion «Fertig mit Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen» soll den Bundesrat beauftragen, eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes zu entwerfen. Ziel der Teilrevision ist es, den Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligungen durch private Dienstleistungsanbieter:innen zu verstärken.
Rückblick auf die Sommmersession 2022: Ständerat
BVG-Reform an die Kommission zurückgewiesen
Die BVG-Reform wurde vom Ständerat ausführlich diskutiert, nach dem Vorbringen neuer Vorschläge aber in die Kommission zurückgeschickt. Mit der Reform soll die Senkung des Umwandlungssatzes von 6.8% auf 6.0% durch einen Rentenzuschlag ausgeglichen werden. Ursprünglich war der Rentenzuschlag vom Bundesrat sowohl für alters- als auch Invalidenrenten vorgesehen – bei den Invalidenrenten wurde der Zuschlag vom Nationalrat aber gestrichen. Für Inclusion Handicap ist klar: alles andere als eine Gleichbehandlung von Alters- und Invalidenrenten ist nicht akzeptabel. Der Dachverband wird sich auch bei der weiteren Behandlung des Geschäfts für die Gleichbehandlung einsetzen.
Rechtsgrundlage für Triage-Entscheidungen zur Vorprüfung an Kommission
Mit einer Motion von Maya Graf, Co-Präsidentin von Inclusion Handicap, soll der Bundesrat beauftragt werden, eine rechtliche Grundlage für Triage-Entscheidungen bei Ressourcenknappheit in Schweizer Spitälern zu schaffen. Unter heutigen Voraussetzungen besteht die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen überproportional von intensivmedizinischen Behandlungen ausgeschlossen werden. Zwar verbesserte die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) nach Kritik der Behindertenverbände ihre Richtlinien bereits, eine Diskussion im Rahmen eines demokratischen Prozesses blieb bisher jedoch noch aus. Der Ständerat überwies die Motion zur Vorprüfung an seine Gesundheitskommission.
Ausserordentlicher Heizkostenanstieg nicht in EL-Berechnung berücksichtigt
Der Ständerat hat eine Motion von Maya Graf zur Anpassung der Bestimmungen zu den Ergänzungsleistungen (EL) abgelehnt. Die Motion sah eine Änderung des Bundesgesetzes über die EL-, AHV- und IV vor. Bei einem ausserordentlichen Heizkostenanstieg aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts sollten die Mehrkosten von der EL übernommen werden. Inclusion Handicap hatte die Motion zur Annahme empfohlen.
Debatte um Barrierefreiheit des Parlament-Live-Streams vertagt
Der Live-Stream der Parlamentsdebatten ist bis heute nicht untertitelt und schliesst so gehörlose und hörbehinderte Menschen aus. Die parlamentarische Initiative 20.505 fordert deshalb die Untertitelung des Live-Streams. Während die Initiative vom Nationalrat bereits deutlich angenommen wurde, hat das Büro des Ständerates das Anliegen abgelehnt. Folgt der Ständerat seinem Büro, wird die politische Inklusion von Gehörlosen weiterhin verhindert. In der Sommersession wurde die Debatte vertagt – das Geschäft wird nun voraussichtlich im Herbst behandelt.
Ständerat für besseren Schutz vor häuslicher und sexueller Gewalt
Mit der Istanbul-Konvention verfügt die Schweiz seit 2018 über das umfassendste internationale Übereinkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Menschen mit Behinderungen waren bei Massnahmen zur Umsetzung der Konvention bisher zu wenig mitberücksichtigt, obwohl sie besonders gefährdet sind. Die Motion 22.3233 von Marina Carobbio Guscetti forderte deshalb spezifische Programme, Projekte und Kampagnen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen. Der Ständerat nahm die Motion an. Nun muss der Nationalrat nachziehen, damit die Istanbul-Konvention umfassend und kohärent umgesetzt werden kann.
Gleichstellung
Familienergänzende Betreuung – auch für Kinder mit Behinderungen!
Eine schweizweite Analyse von Procap Schweiz hat bei der familienergänzenden Betreuung für Kinder mit Behinderungen im Vorschulalter Handlungsbedarf aufgezeigt. Nun hat die WBK-N die Vorlage 21.403 in die Vernehmlassung geschickt. Diese soll die Bundessubventionen im Bereich familienergänzende Betreuung ausbauen. Inclusion Handicap unterstützt die Stossrichtung des Gesetzesentwurfs und begrüsst die Berücksichtigung von Kindern mit Behinderungen. Damit die Unterstützung des Bundes auch die gewünschte Wirkung zeigt, braucht es allerdings noch einige Anpassungen. Gerne verweist Inclusion Handicap auf die Musterstellungnahme von Procap Schweiz und freut sich über zahlreiche Teilnahmen an der Vernehmlassung (Unterlagen zur Vernehmlassung).
ÖV
Einsatz für BehiG-konforme Shuttlebusse in Berggebieten
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) gibt verbindliche Rahmenbedingungen vor, um Menschen mit Behinderungen eine autonome Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Bis heute wird das BehiG jedoch nicht konsequent umgesetzt. Ein ÖV-Betreiber eines Shuttlebusses in einem Berggebiet war beispielsweise der Meinung, sein neuer Elektrobus müsse nicht BehiG-konform sein, weil mobilitätseingeschränkte Personen nicht zu seinem Kundenkreis zählten. Dies ist natürlich falsch: Neu beschaffte Fahrzeuge im konzessionierten ÖV müssen bereits seit 2004 BehiG-konform sein. Auch in Wintersportorten haben alle ein Recht auf barrierefreie Angebote. Inclusion Handicap bleibt dran und betreibt unter anderem auch Sensibilisierungsarbeit.
Barrierefreier Einstieg in Kleinbusse: Inclusion Handicap fördert Lösungsfindung
Die Zulassungszahlen von Kleinbussen hat sich in letzter Zeit merklich erhöht. Aber nicht alle Modelle erfüllen aktuell die Bedingungen für einen niveaugleichen Einstieg. Dank dem Effort des Bundesamts für Verkehr BAV und Inclusion Handicap werden von den Herstellern nun Lösungen erarbeitet, damit ein autonomer Einstieg bei hohen Bushaltekanten möglich ist.
Inclusion Handicap koordiniert Interessenvertretung bei Seilbahnprojekt in Flims / Cassons
In Flims in Graubünden ist eine neue vollautomatisierte Seilbahn geplant. Nun gilt es, die Barrierefreiheit zu sichern. Inclusion Handicap hat zahlreiche Abklärungen vorgenommen. In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verkehr und unter Mitwirkung von Fachgremien werden offene Fragen angegangen und um Lösungen gerungen. Ein erster Erfolg konnte bei der Gestaltung der Kabineninnenräume erzielt werden. Auch hier gilt es hartnäckig zu sein.
Projekte
Reporter:innen ohne Barrieren: Medienberichte von Aktion am 9. März
Die Schweiz hat die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention bei weitem noch nicht erfüllt. Mehr als tausend Personen waren deshalb am 9. März 2022 in Bern, um die Politik und die Gesellschaft wachzurütteln und zur Umsetzung der UN-BRK aufzufordern. An der Aktion waren auch Reporter:innen ohne Barrieren präsent. Daraus sind verschiedene Beiträge rund um die Rechte von Menschen mit Behinderungen entstanden – unter anderem ein Interview zu politischer Inklusion mit Cyril Mizrahi, Grossrat der SP im Kanton Genf und Mitarbeiter von Inclusion Handicap.