Handicap und Politik 04/2024
Handicap und Politik 04/2024
In Handicap und Politik 04/2024: Ausnahmsweise mit nur einem Geschäft mit Bezug zur Behindertenpolitik in der Herbstsession – jedoch mit der deutlichen Forderung nach politischen Rechten für Menschen unter umfassender Beistandschaft, Neuigkeiten zur Kostenteilung von Kanton und Bund bei der intensiven Frühintervention und dem Countdown zur Einreichung der Inklusions-Initiative.
Ausblick auf die Herbstsession: Nationalrat
Finanzierung der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes bei der Bahninfrastruktur
Im Geschäft 24.405 entscheidet der Nationalrat am 23. September über die Finanzierung des Betriebs und Substanzerhalts der Bahninfrastruktur. Ein für die Behindertengleichstellung extrem wichtiges Geschäft, geht es doch auch darum, wieviel Geld z.B. die SBB in die barrierefreie Infrastruktur im Rahmen der massiv verspäteten Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) in den Jahren 2025 bis 2028 investieren können. Mit den Mitteln, welche der Bundesrat und die Kommissionsmehrheit der Verkehrskommission den Bahnbetrieben zur Verfügung stellen will, können aber nicht einmal alle für die Umsetzung bereiten Bau-Projekte durchgeführt werden. Das Parlament würde damit eine weitere Verzögerung beim barrierefreien ÖV und eine Verlängerung des heute gesetzeswidrigen Zustandes wissentlich in Kauf nehmen. Inclusion Handicap fordert den Nationalrat deshalb auf, dem Minderheitsantrag der Verkehrskommission zu folgen und den Zahlungsrahmen für die nächsten vier Jahre um 500 Millionen Franken zu erhöhen.
Gleichstellung
Hohe Haltekanten haben sich bewährt
Haltekanten von 22 cm bei Bushaltestellen sind in der Schweiz bereits etablierter Standard. Um eine Norm über diese Haltekantenhöhe zu publizieren, hat der Schweizerische Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS) dennoch eine Analyse in Auftrag gegeben, um Vergleiche mit umliegenden Ländern zu ziehen. Die Ergebnisse zeigen: Die Haltekantenhöhe von 22 cm bewährt sich im In- und Ausland. Die zuständige Forschungsstelle empfiehlt, die Norm so bald wie möglich zu publizieren sowie eine entsprechende Entscheidungskaskade für alternative Lösungen festzulegen.
Regulierungen und Kontrollmechanismen dringend notwendig für barrierefreien ÖV
Die Verkehrskommission des Nationalrates hat am 26. August 2024 die Petition «ÖV für alle!» (24.2005) behandelt. Diese fordert eine sofortige und flächendeckende Umsetzung eines hindernisfreien, autonom und spontan nutzbaren öffentlichen Verkehrs in der Schweiz und somit die Beseitigung des gesetzeswidrigen heutigen Zustands. Die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes ist der Kommission laut Medienmitteilung ein wichtiges Anliegen, über das sie regelmässig diskutiert und sich nun zusätzlich jährlich Bericht erstatten lasse. Darüber hinaus sieht die Kommission aber keinen Handlungsbedarf und beantragt, der Petition keine Folge zu geben. Inclusion Handicap fordert von Bundesrat und Parlament klar mehr und hat seine Forderungen bereits letztes Jahr in einem Positionspapier veröffentlicht. Nur eine Regulierung mit verbindlichen Vorgaben, wirkungsvollen Kontrollmechanismen sowie einer soliden und zweckgebundenen Finanzierung kann die ab Januar 2024 gesetzeswidrigen Zustände rasch beheben. Der Bundesrat ist bei seiner kommenden BehiG-Revision zum Handeln aufgefordert. Zudem muss das Verkehrsdepartement die beteiligten Akteure an einen runden Tisch bringen und eine Taskforce «Barrierefreier ÖV» einsetzen.Diese soll sich der Herausforderung annehmen, die volle Barrierefreiheit im ÖV bis spätestens 2030 mithilfe eines konsequenten Monitorings durchzusetzen.
Politische Rechte für Menschen unter umfassender Beistandschaft gefordert
Am 5. September behandelt die Staatspolitische Kommission des Nationalrates die Forderungen der Behindertensession von 2023. Diese liegen der Kommission in Form von Petitionen vor. Eine der Forderungen bezieht sich auf den Ausschluss vom Stimm- und Wahlrecht von Menschen mit umfassender Beistandschaft.
Menschen, die «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind» (Art. 136 BV), werden die politischen Rechte heute grundsätzlich aberkannt. Davon betroffen sind Menschen mit psychischen und kognitiven Behinderungen, die unter umfassender Beistandschaft stehen. Dieser Entzug der politischen Rechte ist nicht mit der Behindertenrechtskonvention vereinbar und auch nicht mehr zeitgemäss. Die gegenwärtige Regelung steht im Konflikt mit der Rechtsgleichheit und völkerrechtlichen Verpflichtungen, wie auch der Bericht in Erfüllung des Postulates 21.3296 feststellt. Inclusion Handicap fordert, dass der entsprechende Passus aus der Bundesverfassung gestrichen wird
Sozialversicherungen
Vorgehen zur Erstellung von monodisziplinären IV-Gutachten geklärt
Die Sozialkommission des Nationalrats hat in ihrer Sitzung vom 15./16. August 2024 einen Vorschlag ausgearbeitet, wonach sich bei monodisziplinären IV-Gutachten die IV-Stelle und die versicherte Person auf eine:n Sachverständige:n einigen müssen. Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit hatte dies mit einer parlamentarischen Initiative (21.498) gefordert, die Inclusion Handicap von Beginn an unterstützte. Die Vernehmlassung wird vermutlich im ersten Quartal 2025 eröffnet.
Bundesrat hat nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprochen
Die bundesgerichtliche Praxis zu den leidensbedingten Abzügen hat auch nach Inkraftsetzung der IV-Weiterentwicklung Bestand. Dies hält das Bundesgericht in einem am 23. Juli 2024 veröffentlichten Urteil fest. Aus dem Urteil folgt, dass auch mit den per 1.1.2022 revidierten Bestimmungen des Invalidenversicherungsgesetzes und der Invalidenversicherungsverordnung dem konkreten Einzelfall Rechnung zu tragen und gegebenenfalls ein leidensbedingter Abzug von bis zu 25 Prozent zu gewähren ist. Inclusion Handicap ist erfreut über die Klarstellung durch das Bundesgericht. Aus der Sicht des Dachverbands ist die Festlegung eines realistischen Einkommens und gestützt darauf, die Ermittlung eines fairen IV-Grads, ein Muss.
Bund und Kantone teilen sich Kosten der Frühintervention
Bei Kindern im Vorschulalter mit schweren Autismus-Spektrum-Störungen kann die intensive Frühintervention (IFI) das Verhalten sowie die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten verbessern, da dann die Plastizität des Gehirns noch hoch ist. Eine detaillierte Abrechnung von medizinischen und pädagogischen Massnahmen innerhalb einer Intervention ist erschwert, da die Massnahmen stark miteinander verflochten sind. Aus diesem Grund ist die derzeitige Finanzierung der IFI provisorisch über Vereinbarungen zwischen der IV und denjenigen Einrichtungen geregelt, die eine IFI anbieten. Im laufenden Pilotversuch zur Klärung finanzieller Fragen zeichnet sich ab: Eine gemeinsame Finanzierung von Bund und Kantonen ist angemessen. Der Bundesrat beantragt nun eine Anpassung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG), damit die Beteiligung der IV nach Ablauf des Pilotversuchs verankert wird. Inclusion Handicap begrüsst die gesetzliche Verankerung der IFI. Im Vernehmlassungsverfahren forderte der Dachverband Massnahmen im Hinblick auf die Zugänglichkeit der IFI, damit für alle betroffenen Kinder ausreichend Therapieplätze zur Verfügung stehen. Hierzu würde auch eine umfangreichere finanzielle Beteiligung der IV beitragen, die vom Bundesrat vorgeschlagene Beteiligung von lediglich 30 Prozent an den durchschnittlichen IFI-Kosten ist aus der Sicht von Inclusion Handicap ungenügend.
Wahlfreiheit im Assistenzbeitrag liegt weiterhin auf Eis
Die Sozialkommission des Nationalrats hat sich hinsichtlich der parlamentarischen Initiative von Mitte-Nationalrat Lohr «Entschädigung von Hilfeleistungen von Angehörigen im Rahmen des Assistenzbeitrages» (12.409) über die neusten Entwicklungen im Bereich des selbstbestimmten Wohnens informieren lassen. Inclusion Handicap fordert, dass es nun zügig vorwärts geht. Es ist für Menschen mit Behinderungen essenziell, dass sie selbst entscheiden können, wen sie mit dem von der IV zugesprochenen Assistenzbeitrag für Assistenzleistungen beauftragen und entschädigen. Die vorliegende parlamentarische Initiative wäre ein konkreter Schritt dazu.
Notwendigkeit einer 13. IV-Rente weiterhin klar gegeben
In ihrer kürzlichen Sitzung thematisierte die Sozialkommission des Ständerats die 13. IV-Rente. Dabei hat die Kommission die Verwaltung mit weiteren Abklärungen beauftragt. Für Inclusion Handicap ist klar, dass bezüglich einer 13. IV-Rente eine Handlungspflicht besteht. Der Dachverband fordert weiterhin mit Nachdruck eine 13. IV-Rente, um eine Benachteiligung von IV-Rentner:innen zu verhindern.
Politische Vorhaben
Barrierefreie Demokratie: Die Einreichung der Inklusions-Initiative naht
Der Countdown läuft: Bereits kommenden Donnerstag, 5. September 2024, reichen der Verein für eine inklusive Schweiz und seine Trägerorganisationen die Inklusions-Initiative ein. Für die Übergabe der Unterschriften-Kisten an die Bundeskanzlei müssen fünf Stufen überwunden werden. Damit dies für Menschen mit Behinderungen möglich ist, hat der Verein für eine inklusive Schweiz extra eine 13 Meter lange Rampe bauen lassen. Diese hat bereits für Medienaufsehen gesorgt. Am Einreichungstag sind weiterebarrierefreie Massnahmen geplant, damit möglichst alle Menschen teilnehmen können. All diese Massnahmen machen deutlich: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg zum Abbau von Hindernissen.