Handicap und Politik 06/2023
Handicap und Politik 06/2023
In Handicap und Politik 06/2023: Der Rückblick auf die Herbstsession, das Anfechten der übertriebenen Parteientschädigung aus dem Dosto-Prozess, ein enttäuschender Entscheid des Bundesgerichts und der PolitBlog von Reporter:innen ohne Barrieren.
Rückblick auf die Herbstsession: Nationalrat
Nach Aus des Verbandbeschwerderechts: Verbände wichtiger denn je
Gleich zum Start der Herbstsession verabschiedete der Nationalrat als Zweitrat die Revision des schweizerischen Eisenbahngesetzes. Die autonome Nutzbarkeit durch Menschen mit Behinderungen wird damit nur noch rudimentär überprüft. Dies entgegen den Aussagen von Bundesrat Rösti, der wiederholt zusicherte, die Autonomie von Menschen mit Behinderungen werde auch mit dem neuen Gesetz vollumfänglich gewährleistet. Dem ist offensichtlich nicht so: Ob zum Beispiel Personen im Rollstuhl wegen einer Hindernisabfolge im Eingangsbereich eines Zuges kippen könnten, wird mit dem neuen Gesetz nicht mehr untersucht. Behindertenorganisationen verlieren zudem faktisch ihr Verbandsbeschwerderecht bei der Zulassung von Zügen. Dies obschon es die Verbände als kritisches und hartnäckiges Kontrollorgan mehr denn je braucht, wie am Beispiel der lückenhaften Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes im ÖV deutlich wird. Es braucht im ÖV weiterhin verbindliche Regelungen und eine griffige Kontrolle, Inclusion Handicap wird dies im Rahmen der zurzeit laufenden BehiG-Revision mit Nachdruck einfordern.
Fällige Entschädigung für Assistenzleistende wird weiter verzögert
Vor nunmehr 11 Jahren verlangte Nationalrat Christian Lohr (Die Mitte/TG) mit einer parlamentarischen Initiative, dass Assistenzleistungen von Angehörigen im Rahmen des Assistenzbeitrags zu maximal 80 Prozent entschädigt werden. Obwohl die beiden zuständigen Kommissionen dem Vorstoss längst zugestimmt haben, wurde noch immer kein Erlassentwurf ausgearbeitet. Nun wurde die Frist zur Umsetzung vom Nationalrat bis zur Herbstsession 2025 verlängert. Für Inclusion Handicap ist diese Verzögerung nicht nachvollziehbar. Der Dachverband fordert, dass die Umsetzung nun zügig an die Hand genommen wird.
Koordinationsprobleme zwischen IV und AHV sollen beseitigt werden
Menschen mit Behinderungen, die von der IV Hilfsmittel erhalten, sind meistens auch noch beim Erreichen des Rentenalters auf diese angewiesen. Beim Übertritt von der IV in die AHV bestehen heute aber zum Teil Ungleichbehandlungen. Der Bundesrat wird nun durch ein Postulat von Baptiste Hurni (SP/NE) beauftragt, diese Koordinationsprobleme zwischen IV und AHV zu analysieren und in einem Bericht aufzuzeigen, mit welchen Möglichkeiten diese beseitigt werden könnten.
Weiterer Schritt für eine effizientere Eingliederung am Arbeitsplatz
Geht es nach dem Nationalrat, sollen künftig nicht nur Arbeitnehmende, sondern auch Arbeitgebende die Möglichkeit haben, bei der IV ein Gesuch für Hilfsmittel am Arbeitsplatz zu stellen. Die entsprechende Motion von Christian Lohr (Die Mitte/TG) wurde mit 115 zu 66 Stimmen angenommen. Im Sinne einer unbürokratischen Lösung unterstützt Inclusion Handicap weiterhin die Forderung der Motion und zählt darauf, dass auch der Ständerat die Forderung nach einer Verbesserung der beruflichen Eingliederung unterstützt.
Rückblick auf die Herbstsession: Ständerat
Hilfsmittel-Leistungskatalog der AHV wird erweitert
Der Ständerat hat eine Kommissionsmotion zur Erweiterung des Hilfsmittelkatalogs für Menschen mit Behinderung im Pensionsalter an den Bundesrat überwiesen. Der Leistungskatalog der AHV soll nun gezielt mit bestimmten Hilfsmitteln des IV-Leistungskatalogs ergänzt werden. Für Inclusion Handicap ein erfreulicher Entscheid. Hilfsmittel wie der weisse Stock fördern die Selbstbestimmung und tragen dazu bei, dass stationäre Aufenthalte von Menschen mit Behinderungen im Rentenalter vermieden werden können.
Ständerat stellt sich gegen mehr Inklusion in der Armee
Menschen mit Behinderungen werden auch weiterhin von Armee- und Zivildienst sowie Zivilschutz ausgeschlossen. Ziel der vom Nationalrat noch angenommenen, vom Ständerat nun aber abgelehnten Motion 22.4347 von Rocco Cattaneo (FDP/TI) war es, dass Personen, die für dienstuntauglich erklärt wurden, auf Gesuch hin die Möglichkeit erhalten, Dienst zu leisten. Vor dem Hintergrund der Förderung der Wahlfreiheit von Menschen mit Behinderungen hatte Inclusion Handicap die Motion zur Annahme empfohlen.
Gleichstellung
Die Verbandsbeschwerde darf nicht zu einer Frage des Geldes werden
Inclusion Handicap forderte 2018 einen behindertengerechten Umbau des Fernverkehrszugs Dosto und erhielt vom Bundesgericht teilweise recht, unter anderem auch in Bezug auf die Höhe der auferlegten Parteientschädigung. Das Bundesgericht wies die Angelegenheit für die Neuauflage der Parteientschädigung ans Bundesverwaltungsgericht zurück. Dieses entschied nun diesen Sommer, dass Inclusion Handicap 110'000 Franken Parteientschädigung an die SBB und den Zugbauer Bombardier bezahlen muss. Die 110'000 Franken würden das Ende der Beschwerdemöglichkeiten für den Behindertendachverband bedeuten, eine zweite solche Summe könnte im Rahmen eines zukünftigen Verfahrens schlicht nicht noch einmal aufgebracht werden. Inclusion Handicap hat die festgelegte Entschädigung deshalb diesen September vor Bundesgericht angefochten. Die Verbandsbeschwerde wurde eingeführt, weil ein Grossteil der Menschen mit Behinderungen Verfahren in der Regel nicht selbständig führen können. Mit solch hohen Parteientschädigungen wird Menschen mit Behinderungen jedoch genau die Möglichkeit genommen, Rechtsfragen des Behindertengleichstellungsrechts durch ihre Organisationen vor Gericht klären zu lassen. Für Inclusion Handicap ist klar: Die Verbandsbeschwerde darf nicht zu einer Frage des Geldes werden! Der K-Tipp hat zum Fall berichtet.
Bundesgericht entscheidet erneut gegen die inklusive Schule
Das Bundesgericht hat eine Beschwerde gegen die separative Beschulung eines Jungen mit Trisomie 21 mit 4:1 Stimmen abgelehnt. Die St. Galler Behörden hatten zuvor den Besuch einer heilpädagogischen Schule angeordnet, wogegen sich die Eltern bis vor Bundesgericht wehrten. Mit dem Entscheid bewegt sich das Bundesgericht einmal mehr in den engen Grenzen des bestehenden Schulsystems und verpasst es, seine Rechtsprechung gemäss den Empfehlungen des UNO-Behindertenrechtsausschusses zur Umsetzung eines inklusiven Schulsystems, weiterzuentwickeln. Inclusion Handicap hat das Urteil medial kritisiert. Unter anderem in «Echo der Zeit» von SRF.
Kanton Neuchâtel präsentiert Aktionsplan zur Förderung der Inklusion
Der Kanton Neuenburg hat einen Aktionsplan für die Jahre 2023-2029 mit 45 Massnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen präsentiert. Der Aktionsplan wurde von der kantonalen Verwaltung zusammen mit Verbänden, Selbstbetroffenen und Fachkreisen erarbeitet und umfasst elf Themenbereiche – von Gleichheit über Autonomie bis zu Gesundheit und Mobilität. Er betont u.a. das selbstbestimmte Wohnen und stellt Massnahmen in Aussicht, um den Assistenzbeitrag stärker zu fördern. Inclusion Handicap begrüsst solche Aktionspläne, wie auch denjenigen des Kantons Zürich. Weitere Kantone sollen sich dadurch inspirieren lassen und endlich mit der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) vorwärts machen. Neben Aktionsplänen erfordert die BRK-Umsetzung zwingend auch die Anpassung der geltenden Rechtsgrundlagen der Kantone. Nur damit werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen nachhaltig gestärkt. Neben NE haben sich bereits BS, BL sowie VS entsprechende Rechtsgrundlagen neu gegeben. Spezifisch mit Bezug auf das Thema Wohnen sind es zudem BS, BL sowie Zürich (Subjektfinanzierung).
Projekte
Der PolitBlog: Ein offenes Forum für Kandidat:innen der Behindertenliste
Im Rahmen der nationalen Wahlen 2023 gibt es erstmals eine Behindertenliste. Zu diesem Anlass stellen die Reporter:innen ohne Barrieren den Kandidat:innen den «PolitBlog» auf der Plattform www.inclusive-media.ch zur Verfügung. Beim PolitBlog handelt es sich um ein offenes Forum. Dieses bietet den Kandidat:innen die Möglichkeit, über ihr politisches Engagement und die spezifischen Herausforderungen, denen sie aufgrund ihrer Behinderungen begegnen, zu schreiben. Dabei geht es nicht nur um die Behindertenpolitik – auch andere gesellschaftlich relevante Themen stehen im Fokus.