Handicap und Politik 06/2022
Handicap und Politik 06/2022
In Handicap und Politik 06/2022: Der Rückblick auf eine behindertenpolitisch gesehen erfolgreiche Herbstsession, Interpellationen zum Thema Energiekrise, ein wichtiger Erfolg vor Bundesgericht und Neuigkeiten aus dem Bereich ÖV.
Rückblick auf die Herbstsession: Nationalrat
Parlament beschliesst sofortigen Teuerungsausgleich bei ordentlichen Renten
Gleich drei Motionen forderten in National- und Ständerat eine ausserordentliche Anpassung der AHV- und IV-Renten sowie der Ergänzungsleistungen und Überbrückungsleistungen an die aktuell hohe Teuerung. Mit Erfolg – denn zuerst stimmte am 21.9.2022 der Nationalrat der Motion «Kaufkraft schützen!» der Mitte-Fraktion (22.3792) zu. Fünf Tage später waren dann gleich lautende Motionen von Pirmin Bischof (22.3803) und Paul Rechsteiner (22.3799) im Ständerat ebenfalls erfolgreich. Die Renten müssen nun per 1. Januar 2023 einmalig an die vollumfängliche Teuerung angepasst werden. Aus Sicht von Inclusion Handicap ein notwendiger Entscheid, denn Bezüger:innen von IV-Renten und Ergänzungsleistungen zur IV lebten bereits vor der aktuellen Teuerungssituation mit äusserst knappen finanziellen Mitteln.
Rückblick auf die Herbstsession: Ständerat
Pflegebedarf von Menschen mit Demenz weiterhin ungenügend finanziert
Lange hatte es für die Motion 19.4194 vielversprechend ausgesehen, doch die Finanzierung von bedarfsgerechten Pflegeleistungen für Menschen mit Demenz bleibt weiterhin ungenügend. Der Ständerat stellt sich damit nicht nur gegen seine Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, sondern auch gegen den Nationalrat, der sich in der Herbstsession 2021 relativ deutlich für die Motion ausgesprochen hatte. Inclusion Handicap hatte im Vorfeld der Debatte gemeinsam mit anderen Verbänden die Wichtigkeit des Motionsanliegens betont und ist vom Entscheid der kleinen Kammer entsprechend enttäuscht.
Ständerat sieht bei Betreuungsentschädigung Handlungsbedarf
Erfolgreich war die Motion von Ständerat Damian Müller (22.3608). Die Motion fordert, dass Eltern, deren Kinder aufgrund eines sehr schlechten Gesundheitszustands mindestens vier Tage im Spital behandelt werden, eine Betreuungsentschädigung beziehen können, wenn ein Elternteil die Erwerbstätigkeit für die Betreuung unterbrechen muss. Die Motion fand im Ständerat eine deutliche Mehrheit und geht nun in den Nationalrat. Inclusion Handicap fordert vom Nationalrat, die Bedürfnisse von Kindern im Spital ernst zu nehmen. Der Kontakt zu den Eltern ist für schwer kranke Kinder im Spital von zentraler Bedeutung. Deshalb sind entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Parlamentsdebatten endlich barrierefrei
Nach dem Nationalrat sprach sich in dieser Herbstsession auch der Ständerat für eine Untertitelung des Live-Streams der Parlamentsdebatten aus. Gemäss der parlamentarischen Initiative von Gabriela Suter (SP/AG) 20.505 muss der Bundesrat nun die rechtlichen Grundlagen für die barrierefreie Übertragung schaffen. Zudem muss er prüfen, inwieweit ausgewählte Debatten auch in Gebärdensprache übersetzt werden können. Inclusion Handicap begrüsst den Entscheid des Ständerates und erwartet, dass die Anpassungen so schnell wie möglich umgesetzt werden, damit die rund eine Million Menschen mit einer Hörbehinderung und 10'000 gehörlosen Menschen die Parlamentsdebatten schon bald live verfolgen können.
Stimmgeheimnis nun auch für blinde und sehbehinderte Menschen gewahrt
Sogenannte Abstimmungsschablonen ermöglichen blinden und sehbehinderten Menschen in Zukunft eine autonome und geheime Wahl bei nationalen Abstimmungen. Der Ständerat hat die entsprechende Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats (SPK-N) «Stimmgeheimnis. Ein Recht für alle» (22.3371) als Zweitrat angenommen. Bisher waren Betroffene bei der Abgabe noch auf eine unterstützende Person angewiesen, wodurch das Stimmgeheimnis oft nicht gewähreistet war. Die Schablonen bieten nun aber eine einfache, pragmatische Lösung. Der Bund muss jetzt die Voraussetzung schaffen, damit dieses Hilfsmittel eingesetzt werden kann. Laut Schätzungen der SPK-N werden die Schablonen rund 80'000 bis 100'000 Menschen in der Schweiz das geheime Stimmen ermöglichen. Inclusion Handicap hofft, dass über dieses erfreuliche Ergebnis hinaus, die Entwicklung eines barrierefreien E-Votings weitere Fortschritte hinsichtlich der politischen Partizipation von Menschen mit Behinderungen bringen wird.
Berechnung des IV-Grads wird fairer – ein Durchbruch
Der Ständerat hat es als Zweitrat bestätigt: Die bisher angewendeten statistischen Werte zur Berechnung des Invaliditätsgrads (IV-Grads) sind unrealistisch und müssen überarbeitet werden – gemäss Ständerat bis Ende Dezember 2023. Für die Behindertenverbände ein Erfolg in einem Prozess, der im November 2021 begonnen hatte. Damals hatte der Bundesrat trotz erheblicher Kritik aus Lehre und Praxis beschlossen, bei der Berechnung des IV-Grads weiterhin auf die statistischen Werte aus der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung – sogenannte Tabellenlöhne – abzustellen. Ein Entscheid, den neben den Behindertenverbände insbesondere auch führende Rechtswissenschaftler:innen kritisierten. Die Tabellenlöhne wurden auch im Parlament intensiv diskutiert und im April dieses Jahres forderte die Sozialkommission des Nationalrats schliesslich eine fairere Grundlage für die Bemessung des IV-Grads (Motion 22.3377). Dass sich nun auch der Ständerat für eine Überarbeitung ausspricht, ist erfreulich. Allerdings gilt es für Inclusion Handicap, weiterhin genau hinzuschauen – sowohl was den Zeitplan als auch die Art und Weise der Umsetzung anbelangt. Am Schluss der ständerätlichen Debatte hiess es von Seiten der Regierung nämlich: Eine Umsetzung per Januar 2024 sei nicht möglich, so dass es allenfalls eine Übergangslösung mittels Pauschalabzügen brauche. Für Inclusion Handicap ist das Dossier absolut dringlich. Die Überarbeitung der Bemessungsgrundlagen unter Berücksichtigung statistischer Methodik und dem Stand der Forschung – wie es der Motionstext verlangt – ist zentral.
Gleichstellung
Bundesgericht heisst Beschwerde eines Gymnasiasten gut
Die Invalidenversicherung hat einem Gymnasiasten mit Autismus die Übernahme der behinderungsbedingt notwendigen Kosten des Besuchs eines privaten Gymnasiums verweigert. Als Grund gab die Invalidenversicherung an, das Gymnasium sei für ihn nicht geeignet. Er solle vielmehr eine Berufslehre absolvieren, mit dem Ziel im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Dagegen hat sich der Schüler mit Inclusion Handicap erfolgreich vor dem Bundesgericht gewehrt. Das Bundesgericht stellt fest, dass beim Schüler sehr wohl ein Potential für den Maturitätsabschluss bestehe. Die Invalidenversicherung habe den gut ausgefallenen Lernbericht des Gymnasiums nicht gewürdigt. Auch sei gerichtsnotorisch, dass Personen mit Autismus in bestimmten Bereichen des (Hochschul-)Arbeitsmarktes gute Chancen hätten, sich beruflich zu etablieren. Die Invalidenversicherung muss den Fall nun - allenfalls auch unter Einbezug ergänzender ärztlicher Berichte - erneut abklären. Ein erfreulicher und wichtiger Entscheid!
ÖV
Behindertengerechte Lösungen für neues Tram
Am 7.9.2022 hat Inclusion Handicap den finalisierten Bediennachweis für das Tram «TINA» der Baselland Transport AG (BLT) erhalten. Zusammen mit dem Besteller BLT und dem Hersteller Stadler konnte die Begleitgruppe Rollmaterial unter Koordination von Inclusion Handicap bereits in der Planungsphase Lösungen für bestehende Probleme, Anforderungen und Wünsche finden – oder zumindest zu Kompromissen, die für alle Parteien vertretbar sind, beitragen.
Umbau Bahnhof Weissenbühl (BE) nun deutlich barrierefreier
Für den Umbau des Bahnhofs Bern Weissenbühl prüfte Inclusion zusammen mit der Fachstelle für hindernisfreies Bauen des Kantons Bern, ob bei den geplanten Massnahmen auch die Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) berücksichtigt werden. Dabei wurden Mängel festgestellt.
Am 15.2.2022 erhob Inclusion Handicap deshalb Einsprache beim Bundesamt für Verkehr (BAV). Die Anträge umfassten die Anpassung des taktil-visuellen Leitsystems (Konzept der lückenlosen Führungskette), die Bereitstellung und Markierung der notwendigen Anzahl Behindertenparkplätze sowie die Erweiterung des Projektperimeters, konkret den Einbezug und die Anpassung der Bushaltestelle.
Obwohl aufgrund der vorliegenden Gegebenheiten und Platzverhältnisse auch Kompromisse gesucht werden mussten, werden nun verschiedene wichtige Anpassungen vorgenommen: Gemäss schriftlicher Stellungnahme der BLS werden die Anträge in Bezug auf das taktil-visuelle Leitsystem sowie die Behindertenparkplätze weitgehend umgesetzt. In Bezug auf den Antrag betreffend Bushaltestelle und Bushaltekante begrüsst Inclusion Handicap, dass die BLS den Projektperimeter – wie beantragt – erweitert und die Bushaltestelle in das Projekt miteinbezieht.
Anpassungen hinsichtlich BehiG-Konformität bei BLS-Schiffen
Nach Art. 22 Abs. 1 BehiG müssen Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrsbis zum 31.12.2023 barrierefrei sein – dies gilt auch für Schiffe. Bei den Schiffen der BLS sind deshalb diverse Anpassungen notwendig. Inclusion Handicap wurde vom Planungsbüro, das mit der Koordination der notwendigen Renovations- und Umbauarbeiten beauftragt wurde, für ein Beratungsmandat hinzugezogen. Anhand des Motorschiffs (MS) Brienz sollten notwendige Umbaumassnahmen exemplarisch beurteilt werden und die beschlossenen Massnahmen bei Bedarf auch bei weiteren Schiffen der BLS zur Anwendung kommen. Ziel ist, dass so im Rahmen der periodischen Revisionen die bundesrechtlichen Vorgaben umgesetzt und gleichzeitig weitere Anforderungen und Bedürfnisse mobilitätseingeschränkter Menschen berücksichtigt werden können.
Bei der Begehung der MS Brienz begutachtete Inclusion Handicap. schwerpunktmässig die Universaltoilette, die Handläufe bei Treppen und die Markierung von Glasflächen. Die gesammelten Fakten wurden in einem Fachbericht festgehalten.
Ein frühzeitiger Einbezug von Inclusion Handicap in solche Projekte ist sinnvoll. Ein frühzeitiges erkennen von Mängeln hilft, die Planungssicherheit massgeblich zu erhöhen. Es ist jedoch nie vollständig auszuschliessen, dass das BAV zusätzliche Auflagen erlässt oder trotzdem noch Einsprachen bzw. Beschwerden erfolgen.
Politische Vorhaben
Energiekrise: Bund darf Menschen mit Behinderungen nicht vergessen!
Die Schweiz bereitet sich bezüglich Energie auf einen anspruchsvollen Winter vor. Laut Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS ist eine Strommangellage im Winter aktuell das grösste nationale Risiko. Für viele Menschen mit Behinderungen sind elektronisch betriebene Hilfsmittel jedoch für ein autonomes Leben unverzichtbar. Ein Strommangel würde sie empfindlich treffen. Inclusion Handicap erwartet vom Bund deshalb einen Plan zur Berücksichtigung dieser besonderen Bedürfnisse.
Bei einer Mangellage sind von Sparapellen über Kontingentierungen bis hin zur Netzabschaltung für einige Stunden verschiedene Massnahmen vorgesehen. Welche Rolle in den Überlegungen des Bundes die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen spielen, bleibt bisher unklar. Nationalrat Christian Lohr (Die Mitte/TG) und Ständerätin und Co-Präsidentin von Inclusion Handicap, Maya Graf (Grüne/BL) richteten sich deshalb letzte Woche mit Interpellationen an den Bundesrat. Sie wollen wissen, ob der Bundesrat spezifische Massnahmen für Menschen mit Behinderungen vorsieht und wie er diese kommunizieren wird. Inclusion Handicap fordert vom Bundesrat, dass er aus Corona gelernt hat und frühzeitig an die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen denkt.
Petition Ratifizierung BRK-Zusatzprotokoll: Jetzt gilt es, dranzubleiben!
In knapp zwei Wochen werden wir die Petition zur Ratifizierung des BRK-Zusatzprotokolls einreichen. Das gemeinsame Engagement aller Beteiligten hat sich schon bemerkbar gemacht – in den letzten drei Wochen wurden über 4’000 Unterschriften gesammelt (Total 8'450). Damit es so weitergeht und wir bei der Einreichung am 21. Oktober 2022 ein deutliches Zeichen setzen können, sind noch einmal alle Ressourcen gefordert. Folgendes können Sie tun:
- Petition über private Social Media-Kanäle teilen
- Unterschriftenbögen hier ausdrucken und von Freunden und Bekannten ausfüllen lassen.
Wir danken herzlich für Ihr Engagement!