Handicap und Politik 05/2022
Handicap und Politik 05/2022
In Handicap und Politik 05/2022: Die Vorschau auf die Herbstsession, eine erfreuliche Meldung aus dem Sozialversicherungsbereich und Neuigkeiten von verschiedenen Bahnhofprojekten. Zudem ein Aufruf zum Unterschreiben und Teilen der Petition «Ratifizierung des Zusatzprotokolls»!
Vorschau auf die Herbstsession: Nationalrat
Sofortiger Teuerungsausgleich bei den AHV- und IV-Renten sowie bei den EL und den ÜL gefordert
Am 21.9.2022 behandelt der Nationalrat eine Motion der Mitte-Fraktion (22.3792), die eine ausserordentliche Anpassung der AHV- und IV-Renten, der Ergänzungs-leistungen (EL) und der Überbrückungsleistungen (ÜL) fordert. Ziel der Motion: Per 1. Januar 2023 soll der Bundesrat die Leistungen der AHV, IV, EL und ÜL der aktuellen Teuerung anpassen, ohne dabei dem sogenannten «Mischindex» zu folgen. Denn dieser würde zu einer Abschwächung oder Verzögerung der Anpassung führen. Dasselbe Anliegen behandelt der Ständerat am 26.9.2022 mit den Motionen von Pirmin Bischof (22.3803) und Paul Rechsteiner (22.3799). Da die Teuerung so hoch ist, wie schon lange nicht mehr und der Mischindex die Teuerung 2023 nicht voll ausgleichen würde, unterstützt Inclusion Handicap die Motionen und empfiehlt sie zur Annahme.
Vorschau auf die Herbstsession: Ständerat
Bedarfsgerechte Pflegeleistungen für Menschen mit Demenz sicherstellen
Am 13.9.2022 wird im Ständerat die Motion «Finanzierung von Pflegeleistungen von Menschen mit Demenz» (19.4194) behandelt. Die Pflege von Menschen mit Demenz ist häufig komplex und erfordert mehr Zeit als bei Menschen ohne Demenz. Aktuell ist die Finanzierung von bedarfsgerechten Pflegeleistungen für die Betroffenen jedoch nicht gesichert. Der Bundesrat soll mit der Motion beauftragt werden, die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) so anzupassen, dass Menschen mit Demenz Zugang zu Leistungen haben, die ihrem erhöhten Pflegebedarf gerecht werden. Aus Sicht der Verbände ist es an der öffentlichen Hand, den spezifischen Leistungsbedarf für Menschen mit Demenz im Rahmen der Grundversorgung sicherzustellen. Am 8.9.2022 hat die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats beantragt, die Motion 19.4194 anzunehmen. Inclusion Handicap hatte sich im Vorfeld der Beratungen zusammen mit anderen Verbänden für die Wichtigkeit des Motionsanliegens ausgesprochen. Dementsprechend begrüsst der Dachverband den Entscheid und empfiehlt dem Ständerat, seiner Kommission zu folgen.
Betreuung schwer kranker Kinder im Spital muss gewährleistet sein
Am 13.9.2022 behandelt der Ständerat eine Motion von Ständerat Damian Müller (22.3608). Die Motion fordert, dass der akuten Situation von schwer kranken Kindern bei der Anspruchsregelung auf Betreuungsentschädigung mehr Gewicht gegeben wird. Das Erwerbsersatzgesetz (EOG) soll gemäss der Motion wie folgt ergänzt werden: Neu sollen Eltern, deren Kinder aufgrund eines sehr schlechten Gesundheitszustands mindestens vier Tage im Spital behandelt werden, eine Betreuungsentschädigung beziehen können, wenn mindestens ein Elternteil die Erwerbstätigkeit für die Betreuung unterbrechen muss. Dies ist mit der jetzigen Ausgestaltung der seit 1.7.2021 existierenden Betreuungsentschädigung oftmals nicht gewährleistet. Daher unterstützt Inclusion Handicap die Motion und empfiehlt sie zur Annahme.
Mit barrierefreiem Live-Stream im Bundeshaus politische Inklusion fördern
Am 15.9.2022 entscheidet der Ständerat als Zweitrat über die parlamentarische Initiative 20.505, welche die Barrierefreiheit des Live-Streams des Parlaments fordert. Folgt der Rat der Nein-Parole seines Büros, werden hörbehinderte und gehörlose Menschen weiterhin von den politischen Debatten im Bundeshaus ausgeschlossen. Damit würde er sich auch gegen den Nationalrat stellen, der die parlamentarische Initiative mit 180 Ja-Stimmen sehr deutlich angenommen hat. Inclusion Handicap fordert vom Ständerat ein klares Bekenntnis zu diesem breit abgestützten Anliegen.
Motion für eine fairere Invaliditätsbemessung: Zieht Ständerat nach?
Am 22.9.2022 befasst sich der Ständerat mit der Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N; 22.3377). Diese fordert Invaliditätskonforme Tabellenlöhne bei der Berechnung des IV-Grads. Bei der Berechnung des Invaliditätsgrads wird das mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung noch zumutbar erzielbare Einkommen meist mit Hilfe von statistischen Werten (Tabellenlöhnen) bestimmt – oft sind diese realitätsfern. Der Bundesrat soll deshalb beauftragt werden, bis zum 30. Juni 2023 eine Bemessungsgrundlage zu implementieren, die realistische Einkommensmöglichkeiten berücksichtigt. Der Nationalrat hat die Motion in der Sommersession 2022 ohne Gegenstimme angenommen. Ebenfalls ohne Gegenstimme, dafür aber mit einer Verlängerung der Umsetzungsfrist bis 31. Dezember 2023, beantragt die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) bei ihrem Rat, die Motion anzunehmen. Für Inclusion Handicap ist die Entwicklung invaliditätskonformer Tabellenlöhne äusserst dringlich. Es darf nicht sein, dass das erzielbare Einkommen systematisch überschätzt wird. Dass die SGK-S dem Bundesrat für die Überarbeitung mehr Zeit einräumen will, ist für den Dachverband nicht ganz nachvollziehbar. Trotzdem unterstützt er das Anliegen auch in dieser Form und empfiehlt dem Ständerat die Motion zur Annahme.
Mit Abstimmungsschablonen das Stimmgeheimnis wahren
Für die Stimmabgabe benötigen viele blinde und sehbehinderte Menschen aktuell noch die Unterstützung einer weiteren Person, welche Hilfestellung leistet oder die Stimme im Namen der Stimmberechtigten abgibt. Bis heute haben die Betroffenen keine andere Wahl als darauf zu vertrauen, dass die unterstützende Person die Stimme gemäss ihren Anweisungen abgibt. Das Wahl- und Stimmgeheimnis wird für blinde und sehbehinderte Menschen also nicht gewahrt. Neu entwickelte Abstimmungsschablonen ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen bei nationalen Abstimmungen, zu erfühlen, wo für welche Vorlage ein Ja oder Nein eingetragen werden muss. Damit liegt eine einfache und pragmatische Lösung vor, welche die Autonomie beim Abstimmen erhöht und das Stimmgeheimnis wahrt. Inclusion Handicap empfiehlt dem Ständerat, die Motion 22.3371 «Stimmgeheimnis. Ein Recht für alle» am 29.09.2022 wie der Nationalrat anzunehmen. Mittelfristig erhofft sich der Dachverband, dass mit der Entwicklung eines barrierefreien E-Votings zusätzlich weitere Fortschritte hinsichtlich der politischen Partizipation von Menschen mit Behinderungen gemacht werden.
Politische Vorhaben
Weiterentwicklung der Inklusionsinitiative
Schon seit längerem ist sie im
Gespräch: Die Inklusionsinitiative. Inzwischen wurden die Kräfte gebündelt – in
einer Zusammenarbeit von Inclusion Handicap, Agile.ch, Tatkraft und der
Stiftung für direkte Demokratie sowie mit wissenschaftlicher Unterstützung
wurden ein Initiativtext formuliert und Trägerschaftsmodelle für die
Volksinitiative diskutiert. Es werden eine breite, überparteiliche Trägerschaft
sowie eine enge und starke Zusammenarbeit von Selbstvertreter:innen und
Verbänden angestrebt.
Um das Projekt in einem partizipativen
Verfahren weiterzuentwickeln, finden im September verschiedene Veranstaltungen
statt, bei denen Feedbacks zur Initiative abgeholt werden. Der Verein Tatkraft
und die Stiftung für direkte Demokratie organisieren am 15. September eine
Veranstaltung für Selbstvertreter:innen, interessierte Personen und Netzwerke.
Inclusion Handicap und AGILE.CH führen am 19. September einen Workshop mit
ihren Mitgliederorganisationen durch. Themen werden die Ziele der Initiative, der
Initiativtext, die Trägerschaftsstrukturen und die benötigten Ressourcen sein.
Damit die Unterschriftensammlung im Frühling 2023 beginnen kann, soll noch vor
Ende Jahr entschieden werden, ob die Initiative gemeinsam lanciert wird.
Schon unterschrieben? Endspurt bei Petition zur Ratifizierung des BRK-Zusatzprotokolls!
Menschen mit Behinderungen werden in der Schweiz immer noch ungleich behandelt und ihre Rechte in vielerlei Hinsicht verletzt. Deshalb braucht es ein Zusatzprotokoll zur UNO-BRK. Es ermöglicht Menschen mit Behinderungen, sich bei Verletzung ihrer Rechte direkt bei der UNO zu beschweren. Mit einer Petition fordert Inclusion Handicap deshalb vom Bundesrat, das Zusatzprotokoll unverzüglich zu ratifizieren. Die Petition wird am 21. Oktober 2022 eingereicht. Um ein deutliches Zeichen zu setzen, wird die Unterschriftensammlung noch einmal intensiviert. Helfen auch Sie mit, ein deutliches Zeichen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu setzen: Unterschreiben Sie jetzt auf zurecht.ch und teilen Sie die Petition mit ihrem Umfeld!
Sozialversicherungen
Zugang zum Informationsvorsprung endlich auch für IV-Bezüger:innen
Im Rahmen des Inländervorrangs müssen offene Stellen in Tätigkeitsbereichen oder Wirtschaftsregionen mit einer überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit seit 2018 bei den RAV gemeldet werden. Beim Zugang zu den gemeldeten Stellen gilt für RAV-Berater:innen und die gemeldeten Stellensuchenden der sogenannte Informationsvorsprung: Sie haben während fünf Arbeitstagen exklusiven Zugang zu den gemeldeten Stellen, bevor diese öffentlich ausgeschrieben werden. Stellensuchende IV-Bezüger:innen hingegen, waren bisher kategorisch von dieser Regelung ausgeschlossen. Nun hat der Bundesrat die Erweiterung des Informationsvorsprungs auf vermittlungsfähige IV-Bezüger:innen und IV-Beratende in Auftrag gegeben. Damit erfüllt der Bundesrat über drei Jahre nach deren Einreichung die Anliegen der Motion Bruderer Wyss (19.3239), die 2019 von der früheren Präsidentin von Inclusion Handicap, Pascale Bruderer, eingereicht und vom Dachverband mit grossem Engagement mitgetragen wurde. Ein wichtiger Erfolg für Menschen mit Behinderungen – denn diese sind rund doppelt so oft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wie Menschen ohne Behinderungen.
Volksinitiative 13. AHV-Rente: Einbezug der IV wäre begrüssenswert
Die Sozialkommission des Nationalrats beriet im August über die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente. Die Kommission will nun neben anderen Fragen analysieren, ob eine bedingte Ausweitung der Leistungen auch auf die IV-Renten an die Hand genommen werden soll. Sie hat die Verwaltung mit entsprechenden Abklärungen beauftragt. Inclusion Handicap unterstützt diese Abklärungen. Angesichts des engen finanziellen Budgets von Menschen mit Behinderungen – und um eine Spaltung der 1. Säule zu verhindern – ist es begrüssenswert, wenn die Initiative auch IV-Renten miteinbezieht.
ÖV
Bahnhofprojekt Herzogenbuchsee: Einsprache konnte zurückgezogen werden
Am 7. Juli 2020 reichte Inclusion Handicap beim Bahnhofprojekt Herzogenbuchsee Einsprache wegen fehlenden Liften ein – Der Dachverband berichtete im Juli 2020 mit einem News darüber. Nach etwas mehr als zwei Jahren konnte die Einsprache nun Anfang August 2022 zurückgezogen werden. Gemäss den überarbeiteten Projektunterlagen werden die SBB die beiden Zugänge Ost und West zur Personenunterführung sowie den Zugang zum Perron 2 je mit einem Aufzug als ergänzendem Element zu den Rampen ausstatten sowie die geforderten Anpassungen im Führungskonzept bzw. bei den taktil-visuellen Markierungen umsetzen. Erfreulich, dass der Bahnhof nun deutlich behindertengerechter geplant wird.
Bahnhöfe Appenzell und Trogen: Erst ab 2025/2026 niveaugleich
Die Appenzeller Bahnen planen sowohl am Bahnhof Appenzell als auch am Bahnhof Trogen Teilerhöhungen der Bahnperrons. Bei beiden Projekten sind die Teilerhöhungen als Übergangslösungen vorgesehen, bis die Bahnhöfe definitiv umgebaut werden. Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass Übergangslösungen mit Teilerhöhungen problematisch sind. Es kommt immer wieder vor, dass Zugkompositionen nicht an den vorgesehenen Haltepunkten halten oder z. B. anderes Rollmaterial eingesetzt wird, sodass der niveaugleiche Ein- und Ausstieg nicht möglich ist. Angesichts der langen 20-jährigen Anpassungsfrist von Art. 22 Abs. 1 BehiG, die Ende 2023 endet, ist diese Situation klar unzureichend. Trotz gesetzlicher Frist müssen Menschen mit Behinderungen also weiterhin auf einen lückenlosen autonomen Zugang warten. Inclusion Handicap fordert seit jeher, dass so rasch wie möglich definitive Lösungen umgesetzt werden. Das BAV hat dem Dachverband für diese zwei Fälle nun im Rahmen des Plangenehmigungsverfahrens bestätigt, dass beim Bahnhof Appenzell der definitive Umbau für die Jahre 2025 und 2026 geplant ist, bzw. beim Bahnhof Trogen ab 2026 mit dem definitiven Umbau zu rechnen ist. Die Perrons werden dann bei beiden Bahnhöfen auf der gesamten Länge so erhöht, dass bei allen Türen ein niveaugleicher Ein- und Ausstieg möglich ist.