Handicap und Politik 01/2025
Handicap und Politik 01/2025
In Handicap und Politik 01/2025: Ausblick auf die Frühlingssession mit ausserordentlich vielen Geschäften der Behindertenpolitik, einem Lichtblick in der BehiG-Revision und ein gewonnener Gerichtsfall zur Gleichstellung im Bereich der Bildung.
Ausblick auf die Frühlingssession: Nationalrat
Inklusion in der Arbeitswelt endlich vorantreiben
13.03.2025; Postulat Suter 24.4213: Menschen mit Behinderungen sind gegenüber Menschen ohne Behinderungen im 1. Arbeitsmarkt schlechter gestellt. Mit dem Postulat 24.4213 will SP-Nationalrätin Gabriela Suter den Bundesrat beauftragen darzulegen, mit welchen zusätzlichen gesetzlichen und regulatorischen Massnahmen die Inklusion im 1. Arbeitsmarkt gefördert werden kann. Dabei geht es um die Eingliederung und den Verbleib von Personen im 1. Arbeitsmarkt, die aufgrund einer Invalidität aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Aber auch um die Inklusion von Personen, welche bisher ausschliesslich im 2. oder ergänzenden Arbeitsmarkt arbeiten. Inclusion Handicap begrüsst, dass mit dem Bericht die notwendigen Grundlagen geschaffen werden sollen. Denn ein 1. Arbeitsmarkt, der für alle Menschen zugänglich ist, verdient eine höhere Priorität.
Qualitativ einwandfreie IV-Gutachten sind ein Muss
13.03.2025; Motion Lohr Piller 25.3006: In der Kommissionssitzung vom 17. Januar 2025 forderte die Sozialkommission des Nationalrats (SGK-N) mit der Motion 25.3006 eine Rechtsgrundlage, welche die Neubeurteilung von negativen IV-Entscheiden ermöglicht, die sich auf mangelhafte Gutachten stützten. Darüber berichtete Inclusion Handicap in einer ausführlichen News. Aus Sicht von Inclusion Handicap ist die Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage folgerichtig und dringend notwendig. Das soll auch der Nationalrat bekräftigen.
Verbesserte Unterstützung bei Härtefällen am Arbeitsplatz
13.03.2025; Motion SGK-N 25.3007: Um die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, unterstützt die Invalidenversicherung Betroffene bei der Eingliederung mit Hilfsmitteln, darunter Dienstleistungen von Dritten. Dazu zählen beispielsweise Gebärdensprach-dolmetscher:innen, Vorlese- oder Transportdienste. Die aktuelle Finanzierungspraxis schränkt Betroffene in ihrer Berufswahl stark ein und hindert sie an der Ausübung kommunikationsintensiver Berufe. Die in der Motion 25.3007 geforderte Einführung von Härtefällen soll Abhilfe schaffen und Betroffene in festgelegten Fällen durch zusätzliche Beiträge gezielt unterstützen. Inclusion Handicap fordert den Nationalrat dazu auf, diesen wichtigen Schritt zur beruflichen Eingliederung zu tun.
Politische Rechte von Menschen mit Behinderungen anerkennen
17.03.2025; Motion SPK-N 24.4266: Politische Rechte sollen allen Schweizer:innen ab 18. Jahren zustehen. So auch Menschen mit Behinderungen, die auf eine umfassende Beistandschaft oder eine vorsorgebeauftragte Person im Alltag angewiesen sind. In dieser Hinsicht bewegte sich auf Ebene der Kantone in den letzten Jahren einiges. Die Kantone Genf und Appenzell Innerrhoden kennen bereits das Stimmrecht für alle, diesem Beispiel folgte jüngst auch der Kanton Obwalden. In mehreren weiteren Kantonen laufen Bestrebungen in die gleiche Richtung. Nun fordert die Staatspolitische Kommission des Nationalrats mit der Motion 24.4266, dass die Gleichstellung der politischen Rechte national verankert wird. Der Bundesrat beantragte deshalb Ende 2024 die Annahme der Motion. Nun liegt das Geschäft dem Nationalrat vor – Inclusion Handicap zählt darauf, dass er sich für die politische Teilhabe aller Menschen einsetzt und fordert die Abschaffung des diskriminierenden Ausschlusses.
Ausblick auf die Frühlingssession: Ständerat
Frühintervention bei Kindern mit Autismus stärken
04.03.2025; Geschäft BR 24.066: Die intensive Frühintervention (IFI) ist eine wissenschaftlich anerkannte Massnahme für Kinder mit Autismus im Vorschulalter. Der Bundesrat will deshalb die Kostenübernahme der intensiven Frühintervention bei Kindern auf dem Autismus-Spektrum verbessern. Damit diese durch die IV gewährleistet werden kann, braucht es nun eine Anpassung des IV-Gesetzes. Die SGK-S hat dieser Änderung Ende Januar zugestimmt. Inclusion Handicap fordert nun den Ständerat dazu auf, dieses Geschäft anzunehmen.
Selbstbestimmtes Wohnen soll endlich Tatsache werden
06.03.2025; Motion SGK-N 24.3003: Menschen mit Behinderungen sollen ihre Wohnform sowie ihren Wohnort frei und selbstbestimmt wählen können sowie die nötige Unterstützung erhalten – das fordert die Motion 24.3003. Nachdem der Nationalrat mit der klaren Annahme der Motion 24.3003 bereits beschlossen hat, eine zeitgemässe Rechtsgrundlage für das selbstbestimmte Wohnen zu schaffen, forderte auch die SGK-S die Modernisierung des Rahmengesetzes IFEG. Nun entscheidet der Ständerat als Zweitrat über das Geschäft. Für Inclusion Handicap ist klar: Es braucht einen klaren Auftrag an den Bundesrat, das IFEG zu modernisieren und so selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen.
Bessere Hörgeräteversorgung soll gesellschaftliche Kosten reduzieren
06.03.2025; Interpellationen Dittli 24.4295 und 24.4296: In den beiden Interpellationen 24.4295 und 24.4296 von FDP-Ständerat Josef Dittli geht es um die Situation von Menschen mit einer Schwerhörigkeit. Die Interpellation 24.4295 befasst sich mit den gesellschaftlichen Kosten, die jährlich CHF 7 Milliarden betragen. Diese Kosten könnten mittels Prävention, Früherkennung, wirksamen Behandlungsmöglichkeiten und Rehabilitationen, inkl. der breiten Verfügbarkeit von Hörgeräten, markant beeinflusst werden. Ständerat Josef Dittli will vom Bundesrat nun wissen, wieer den Zugang zur Hörversorgung verbessern und damit die gesellschaftlichen Kosten von Schwerhörigkeit zu senken gedenkt. In seiner Interpellation 24.4296 weist Ständerat Josef Dittli darauf hin, dass AHV-Renter:innen bei Leistungen an Hörgeräte stark benachteiligt werden, da im AHV-Alter erst bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit mit einem Schwellenwert von 35% Hörverlust über beide Ohren ein Leistungsanspruch besteht. Für Inclusion Handicap ist klar: Bei der Hörgeräteversorgung braucht es Verbesserungen.
Auf Parkgebühren für gehbehinderte Personen soll verzichtet werden
11.03.2025; Motion Bregy 22.3727: In einzelnen Kantonen und Gemeinden können Personen mit Gehbehinderungen kostenlos parkieren. Die regionalen Unterschiede führen aber dazu, dass gehbehindere Menschen aus Verunsicherung über die jeweilige Handhabung oft sicherheitshalber Parkgebühren bezahlen. Mit der Motion 22.3727 verlangt Mitte-Nationalrat Philipp Bregy eine schweizweit einheitliche Regelung zum Erlass der Parkgebühren auf öffentlichen Parkplätzen für gehbehinderte Personen. Damit soll eine Angleichung an die Vergünstigung im Öffentlichen Verkehr stattfinden, wo eine Ausweiskarte für Menschen mit einer Behinderung, der sogenannten Begleitausweis, bereits Standard ist. Inclusion Handicap begrüsst diesen wichtigen Schritt zur Erleichterung der Mobilität von Menschen mit Behinderungen und fordert den Ständerat dazu auf, es dem Nationalrat gleich zu tun und die Motion anzunehmen.
Auch Ständerat soll betreutes Wohnen für EL-Bezüger:innen fördern
19.03.2025; Geschäft BR 24.070: Der Nationalrat hat am 19. Dezember 2024 einer Änderung des Ergänzungsleistungsgesetzes zugestimmt und sich damit klar für das betreute Wohnen von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen mit EL ausgesprochen. Inclusion Handicap hatte sich bereits in der Vernehmlassung stark für das betreute Wohnen für Menschen mit Behinderungen eingesetzt. Der Dachverband der Behindertenorganisationen hatte zudem auf notwendige Verbesserungen bei der Entschädigung für Nachtassistenzzimmer und für rollstuhlgängige Wohngemeinschaften aufmerksam gemacht. Diese vom Nationalrat beschlossenen Verbesserungen soll nun auch der Ständerat mittragen.
Klare Regelung für Dolmetschkosten im Gesundheitswesen gefordert
19.03.2025; Motion SGK-S 25.3013: Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) fordert mit einer Motion, die Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschleistungen im Gesundheitswesen zu regeln. Bisher fehlt in der Schweiz eine klare Regelung zur Übernahme von Dolmetschkosten bei medizinischen Dienstleistungen. Dadurch erhalten gehörlose Menschen keine angemessene Unterstützung durch Gebärdensprachdolmetscher:innen und können sich nicht mit ihren Ärzt:innen verständigen. Inclusion Handicap begrüsst diesen wichtigen Schritt für eine inklusivere Gesundheitsversorgung und empfiehlt es dem Ständerat dringend, diese Motion anzunehmen.
Nur 13. IV-Rente für EL-Beziehende schafft Gleichbehandlung
19.03.2025; Motion SGK-S 25.3014: Die Sozialkommission des Ständerats hat an ihrer Sitzung vom 27./28. Januar 2025 einen Schritt zu mehr Gleichbehandlung in der 1. Säule der Existenzsicherung gemacht. Sie spricht sich zwar gegen eine 13. Rente in der Invalidenversicherung aus, wie sie Inclusion Handicap forderte. Sie will aber im Rahmen der Ergänzungsleistungen dafür sorgen, dass IV-Rentner:innen einen Zuschlag in der Höhe einer 13. IV-Rente erhalten. Betroffen wäre diejenige Hälfte der IV-Rentner:innen, welche für die Existenzsicherung Ergänzungsleistungen beziehen müssen. Eine entsprechende Kommissionsmotion steht nun im Ständerat zur Debatte. Auch wenn aus Sicht von Inclusion Handicap für die volle Gleichbehandlung eine 13. IV-Rente angezeigt wäre, ist die Kommissionsmotion ein notwendiger Minimal- Schritt in die richtige Richtung.
Gleichstellung
Bundesrat bessert bei BehiG-Revision nach und kündigt Inklusionsgesetz an
Kurz vor Weihnachten sendete der Bundesrat ein starkes Signal: Er bessert bei der Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) deutlich nach und reagiert damit auf die Kritik der Behindertenverbände am bisherigen Entwurf. Insbesondere der Diskriminierungsschutz wird gestärkt. Weiterhin ungelöst bleibt die unhaltbare Situation rund um die Barrierefreiheit im Schweizer ÖV. Ebenfalls ist die Anerkennung der Gebärdensprachen zu unverbindlich und konkrete Sprachfördermassnahmen fehlen. Die verbesserte BehiG-Teilrevision reicht somit nicht aus, um das Kernanliegen der Inklusions-Initiative umzusetzen. Mit einem indirekten Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative in Form eines Inklusions-Rahmengesetzes sowie Massnahmen in der IV kündigt der Bundesrat aber zumindest weitere Schritte in Richtung tatsächliche Gleichstellung an. Ein Gegenvorschlag soll Ende Mai 2025 in die Vernehmlassung geschickt werden. Inclusion Handicap wird sich in den weiteren Prozess der Erarbeitung dieser Gesetze einbringen und fordert, dass aus den Ankündigungen dann auch substanzielle Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen werden.
Sozialversicherungen
Long-Covid – Ein ernstzunehmendes Krankheitsbild in der IV
Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) zieht eine erste Bilanz zu den Auswirkungen von Long-Covid in der IV. Die Ergebnisse im Zeitraum von 2021 bis 2023 zeigen: 1,8 Prozent der IV-Neuanmeldungen erfolgen von Personen mit Long-Covid. Die Betroffenen weisen häufig besonders schwere Symptome wie Fatigue und Belastungsintoleranz oder Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen auf. In neun von zehn Fällen sind die Personen zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Verbesserungen treten entweder rasch oder aber kaum mehr ein. Long-Covid ist deshalb für die IV ein ernstzunehmendes Krankheitsbild mit einschneidenden Auswirkungen für Betroffene.
SGK-N schickt einen Umsetzungsvorschlag für ein echtes Einigungsverfahren in die Vernehmlassung
Am 30. Januar 2025 hat die Sozialkommission des Nationalrats (SGK-N) die Vernehmlassung zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative (21.498) von Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit eröffnet. Laut dem Vorentwurf der SGK-N sollen sich die IV-Stelle und die versicherte Person bei der Vergabe von monodisziplinären IV-Gutachten auf eine:n Sachverständige:n einigen müssen. Gelingt dies nicht, sollen beide Parteien eine:n Sachverständige:n für ein gemeinsames Gutachten bezeichnen. Dieses soll das Ergebnis einer Konsensbeurteilung festhalten.
Inclusion Handicap begrüsst es, dass die SGK-N nun einen Umsetzungsvorschlag in die Vernehmlassung geschickt hat. Der Vorentwurf der SGK-N entspricht einer langjährigen Forderung des Dachverbands nach einem echten Einigungsverfahren bei der Vergabe von monodisziplinären IV-Gutachten. Die Vernehmlassung zum Vorentwurf dauert bis 8. Mai 2025. Inclusion Handicap wird sich mit einer Vernehmlassungsantwort stark einbringen.
Beseitigung von negativen Anreizen der IV als Mittel zur beruflichen Wiedereingliederung
Nehmen IV-Rentenbeziehende eine Erwerbstätigkeit auf oder erhöhen sie ihr Arbeitspensum, kann dies zur Reduktion oder Aufhebung der IV-Rente führen. Tritt innerhalb einer 3-jährigen sogenannten Schutzfrist erneut eine Arbeitsunfähigkeit ein, gewährt die IV eine Übergangsleistung im Umfang der ursprünglichen IV-Rente. Gleichzeitig führt sie eine Revision durch. Weil die Betroffenen bei einem gesundheitlichen Rückfall sowohl das entsprechende Einkommen als auch den Anspruch auf eine Rente verlieren könnten, fürchten sich viele vor einer Wiederaufnahme oder Erhöhung einer Erwerbstätigkeit. In Anbetracht des Fachkräftemangels und des Anstiegs von Neurenten bei der IV fordert Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit den Bundesrat in seiner Motion 24.4618 auf, diese negativen Anreize durch die Anpassung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) zu beseitigen. Für Inclusion Handicap ist das ein unerlässlicher Schritt, um Menschen bei der Wiedereingliederung zu unterstützen.
Politische Vorhaben
Vereintes Engagement für eine inklusive Schweiz
In den nächsten Jahren geht es um nicht weniger als die Verwirklichung einer inklusiven Schweiz. Am 28. Januar 2025 begrüssten unsere Co-Präsidentinnen, Maya Graf und Verena Kuonen, die Präsidien und Geschäftsleiter:innen von Schweizer Behindertenverbänden im Bundeshaus. Teil des Anlasses war die 10-Jahres-Feier des vereinten Engagements der Schweizer Behindertenverbände im Dachverband Inclusion Handicap. «Ein starker Dachverband ist zur Begleitung der anstehenden Prozesse von zentraler Bedeutung», sagt Verena Kuonen. Mit der Inklusions-Initiative, der Behandlung der BehiG-Revision im Parlament, dem Inklusionsrahmengesetz und mit den vom Bundesrat angekündigten Massnahmen in der IV bieten sich in den Jahren 2025-2029 gleich mehrere Möglichkeiten, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen voranzubringen. «Wir sind in den Startlöchern, um unser Ziel zu erreichen: Eine wirklich inklusive Schweiz», so Maya Graf im Bundeshaus.
Projekte
Nachteilsausgleich gilt auch in der Berufslehre
Das kantonale Amt für Berufsbildung in St. Gallen verweigerte einem KV-Lernenden bei sämtlichen Prüfungen in der Berufsschule den von ihm beantragten Zeitzuschlag von 15% der regulären Prüfungszeit. Mit Unterstützung von we claim zog der KV-Lernende vor Gericht. Das Verwaltungsgericht St. Gallen heisst die Beschwerde gut und hält in seinem Urteil fest, dass mit dem Zeitzuschlag ausschliesslich die behinderungsbedingten Nachteile ausgeglichen werden. Ein weiterer Erfolg im Projekt we claim, denn bereits im vergangenen Mai verzeichnete Inclusion Handicap im Fall von Marion Vassaux einen Etappensieg beim Nachteilsausgleich für den Numerus clausus. Die beiden Urteile sind ein wichtiges Statement für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.