Inclusion Handicap enttäuscht: Kein Urteil über DiskriminierungMedienmitteilung (18.07.2019): «Glaisen vs. Schweiz» vor dem EGMR
Der EGMR ist nicht auf die Beschwerde eines Rollstuhlfahrers eingetreten, der in Genf nicht in ein Kino gelassen wurde. Der EGMR hält an seiner bisherigen Praxis fest und urteilte gar nicht, ob eine Diskriminierung vorliegt oder nicht. Damit bleibt die zu enge Definition des Bundesgerichts zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bestehen. Inclusion Handicap ist enttäuscht über den Entscheid. Menschen mit Behinderungen bleiben in der Schweiz vor Diskriminierungen bei Dienstleistungen Privater nach wie vor weitgehend schutzlos.
Eine Person im Rollstuhl darf nicht ins Kino – aus dem Grund, weil sie im Rollstuhl sitzt. Marc Glaisen aus Genf, Paraplegiker und deshalb im Rollstuhl, widerfuhr genau das im Jahre 2008. Mit fachlicher Unterstützung von Inclusion Handicap bestritt er den Rechtsweg bis vor Bundesgericht, gestützt auf Art. 6 Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG). Dort heisst es: «Private, die Dienstleistungen öffentlich anbieten, dürfen Behinderte nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminieren». Das Bundesgericht wies die Klage von Glaisen ab. Er zog den Fall im August 2013 an den EGMR weiter.
In seiner Beschwerde kritisierte er die Auffassung des Bundesgerichts: Demnach liegt keine Diskriminierung vor, weil das Kino nicht aus böswilliger Absicht heraus handelte, sondern aus Sorge um seine Sicherheit. Im Brandfall hätten die Kinoangestellten ihn nicht retten können, argumentierte das Kino. Dass die Folgen des Ausschlusses für Glaisen diskriminierend sind – wenn er nicht im Rollstuhl sässe, könnte er den Film problemlos schauen – zog das Bundesgericht nicht in Betracht.
Kein Urteil über Diskriminierung
Der EGMR überprüfte in seinem heutigen Urteil gar nicht, ob eine Diskriminierung vorliegt. Gemäss seiner Rechtsprechung muss dafür ein anderes Menschenrecht tangiert sein, ehe er über eine allfällige Diskriminierung urteilen kann. Glaisen argumentierte, dass er in seinem Privatleben (Art. 8 EMRK) und in seiner Informationsfreiheit (Art 10 EMRK) eingeschränkt ist. Der EGMR bestätigte nun aber, seine bisherige Praxis beizubehalten. Einzelfälle wie ein Kinobesuch seien nicht genügend schwerwiegend, um einen Verstoss gegen Art. 8 geltend zu machen. Er folgte nicht der Argumentation Glaisens, wonach eine Gesamtperspektive einzunehmen ist und die Summe der Einzelfälle sehr wohl sein Privatleben einschränken. Denn Personen im Rollstuhl wird sehr häufig der Zugang zu Kinos, Restaurants, Warenhäusern, Konzertsälen etc. verunmöglicht.
Über die Informationsfreiheit hat der EGMR im Zusammenhang mit der mangelnden Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen zuvor noch nie geurteilt.
Bundesgerichtspraxis ist kaum konform mit Völkerrecht
Die enge Auslegung des Diskriminierungsbegriffs durch das Bundesgericht dürfte jedoch weiterhin unter Druck kommen. Sie ist nicht vereinbar mit der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), zu dessen Umsetzung sich die Schweiz verpflichtet hat. Im Herbst 2020 wird der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen überprüfen, wie die Konvention in der Schweiz umgesetzt wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er diese Praxis rügen wird. Inclusion Handicap hatte im Schattenbericht zur BRK-Umsetzung darauf hingewiesen.
Der Fall Marc Glaisen und die geltende Rechtspraxis zeigen eindrücklich auf, wie weit Menschen mit Behinderungen von tatsächlicher Gleichstellung entfernt sind. Inclusion Handicap wird weiterhin an vorderster Front dafür kämpfen.