Darf einem Rollstuhlfahr er der Zutritt zum Kino verweigert werden? Der EGMR entscheidetAnkündigung Urteil des EGMR vom 18. Juli: «Glaisen vs. Schweiz»
Am kommenden Donnerstag, 18. Juli, entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall «Glaisen v. Schweiz». Glaisen gelangte nach Strassburg, weil ihm der Zutritt zu einem Kino in Genf aus Sicherheitsbedenken verweigert wurde. Inclusion Handicap hatte in dieser Angelegenheit selber auch Beschwerde bis vor Bundesgericht geführt. Danach hatte der Dachverband Herrn Glaisen im Verfahren vor dem EGMR fachlich unterstützt.
Die Ausgangslage
Im Jahre 2008 wollte Marc Glaisen, Paraplegiker und auf einen Rollstuhl angewiesen, einen Film in einem Kino in Genf schauen. Der Film lief in Genf ausschliesslich in dem betreffenden Kino. Der Zutritt wurde ihm jedoch verwehrt: Da es im Saal Stufen hat, sei das Risiko zu gross. Im Brandfall könne niemand für seine Sicherheit garantieren. Glaisen war bereit, hierfür die alleinige Verantwortung zu übernehmen. Trotz mehrerer Gespräche verblieb das Kino auf seinem Standpunkt. Da er sich diskriminiert fühlte, bestritt Glaisen den Rechtsweg, gestützt auf Art. 6 Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG). Dort heisst es: Private, die Dienstleistungen öffentlich anbieten, dürfen Behinderte nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminieren. Zu den öffentlichen Dienstleistungen von Privaten gehören Angebote wie eben Kinos, Restaurants, Online-Shops, Stadien, Warenhäuser, Banken u.v.m.
Der EGMR
Würde Glaisen vor dem EGMR gewinnen, hätte dies historische Dimension: Das Gericht würde seine Rechtspraxis ändern. In ähnlich gelagerten Fällen aus anderen Staaten, beantwortete es die Frage gar nicht, ob ein Verhalten diskriminierend war oder nicht. Denn: Damit der EGMR über eine Diskriminierung nach Art. 14 der Europ. Menschenrechtskonvention (EMRK) überhaupt erst urteilt, muss eine andere Bestimmung tangiert sein. Glaisen argumentiert, dass das Verhalten des Kinos einerseits sein Privatleben (Art. 8 EMRK) bzw. seine Informationsfreiheit (Art. 10 EMRK) einschränkt. In zwei ähnlichen Fällen – Personen im Rollstuhl konnten nicht an einen Strand und in eine Poststelle – argumentierte der EGMR, dass das Privatleben nicht genug eingeschränkt ist. Er bezieht sich lediglich auf den Einzelfall, also ob die betroffene Person einmal ins Kino durfte oder nicht. Dies reiche nicht aus, um eine Einschränkung des Privatlebens geltend zu machen.
Glaisen argumentiert nun, dass diesbezüglich eine Gesamtperspektive eingenommen werden muss: Es gilt, nicht nur den Einzelfall zu beurteilen; in der Summe sind die zahlreichen Barrieren sehr wohl eine Einschränkung in seinem Leben. Es kommt häufig vor, dass eine Person im Rollstuhl keinen Zugang zu den Dienstleistungen von Privaten hat. Es soll in Betracht gezogen werden, dass er auch nicht ins Restaurant, auf die Bank oder ins Stadion kann. In der Summe schränkt dies sein Privatleben sehr wohl ein.
Erst wenn der EGMR dieser Argumentation folgt, wird er auch darüber urteilen, ob eine Diskriminierung vorliegt oder nicht. - Gleisen ist die erste Person im Rollstuhl, die ein Verletzung der Informationsfreiheit geltend machte, weil ihr der Zugang zu einer Dienstleistung, wie eben z.B. zu einem Kino, verweigert wurde. Dazu gibt es dementsprechend noch keine Rechtsprechung des EGMR.
Das Bundesgericht
Glaisen verlor auf dem Rechtsweg durch alle Instanzen, 2012 auch vor Bundesgericht. Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass das Verhalten des Kinos nicht diskriminierend war. Dies, weil das Kino aus Sorge um die Sicherheit von Marc Glaisen handelte und somit keine böswillige Absicht dahinterstecke. Glaisen und Inclusion Handicap sind der Ansicht, dass die Folgen für die Betroffenen in Betracht gezogen werden müssen: Er durfte nicht ins Kino, das er ohne Rollstuhl besuchen dürfte.
Das Urteil des Bundesgerichts vom 10. Oktober 2012 (BGE 138 I 475)
Das Kantonsgericht Ausserrhoden…
…ist bisher das einzige Gericht in der Schweiz, dass seit Inkrafttreten des BehiG (2004) eine Diskriminierung in der Schweiz feststellte: Ein Bad hatte einer Gruppe von Kindern mit Behinderungen den Zugang verweigert. Dabei stellte sich das Gericht ausdrücklich gegen die enge Diskriminierungs-Auslegung des Bundesgerichts: Die Folgen für Menschen mit Behinderungen müssen in Betracht bezogen werden, nicht bloss die Absicht. Das Urteil wurde nicht weitergezogen.