Handicap und Recht 01-04/2020
Handicap und Recht 01-04/2020
Inhalt dieses Newsletters sind die Präsentation und Kommentierung von praxisrelevanten Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsweisungen, ausgewählte Gerichtsurteile sowie Beispiele aus der Beratungstätigkeit.
01/2020 – Valideneinkommen bei Personen, die invaliditätsbedingt keine beruflichen Kenntnisse erwerben können
02/2020 – Urteil des Bundesgerichts zur Bedeutung von Berichten der beruflichen Abklärung
03/2020 – Bundesgericht gewichtet finanzielle Interessen der Kantone stärker als Niederlassungsfreiheit von Menschen in Heimen
04/2020 - Deutsches Bundesverfassungsgericht mit wegweisendem Urteil – Autonomie muss garantiert sein
IV
Valideneinkommen bei Personen, die invaliditätsbedingt keine beruflichen Kenntnisse erwerben können
Personen, die wegen einer seit Geburt oder Kindheit bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben können, gelten als Geburts- und Frühinvalide. Ihr für die Prüfung des IV-Rentenanspruchs massgebendes Valideneinkommen richtet sich nach Art. 26 Abs. 1 Invalidenversicherungsverordnung (IVV) und beträgt altersabgestuft jährlich zwischen 58'450 Franken (18-20 Jahre) und 83'500 Franken (über 30 Jahre). In seinem Urteil vom 11. April 2019, 9C_233/2018, hat das Bundesgericht festgehalten, in welchen Konstellationen Art. 26 Abs. 1 IVV zur Anwendung gelangt.
Urteil des Bundesgerichts zur Bedeutung von Berichten der beruflichen Abklärung
Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil vom 15. Februar 2019, 9C_534/2018, zur Bedeutung von Berichten der beruflichen Abklärungsstellen im Verhältnis zu einem medizinischen Gutachten geäussert. Im konkreten Fall geht es um den IV-Rentenanspruch eines jungen Mannes, den Inclusion Handicap im Beschwerdeverfahren vertreten hat. Das Bundesgericht hat das medizinische Gutachten als nicht beweistauglich erachtet. Es kam zum Schluss, dass sich die Gutachterin nicht genügend mit den Berichten der beruflichen Abklärungsstellen auseinandergesetzt hat.
Wohnen
Bundesgericht gewichtet finanzielle Interessen der Kantone stärker als Niederlassungsfreiheit von Menschen in Heimen
Das Bundesgericht hat die Beschwerde eines Mannes mit einer geistigen und psychischen Behinderung mit Wohnsitz in einem Heim im Kanton Jura ab. Der Betroffene wollte nach Genf umziehen, wo seine Schwester wohnt, die auch seine Beiständin ist. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab: Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sei verhältnismässig, da eine ausserkantonale Platzierung wesentlich teurer zu stehen käme. Dabei trug es den Interessen des Beschwerdeführers, näher bei seiner Schwester zu leben, nicht genügend Rechnung. In der Schweiz ist die Niederlassungsfreiheit von in Heimen lebenden Menschen mit Behinderungen somit nicht wirklich gewährleistet.
Dienstleistungen
Deutsches Bundesverfassungsgericht mit wegweisendem Urteil – Autonomie muss garantiert sein
Das deutsche Bundesverfassungsgericht gewichtet die Autonomie von Menschen mit Behinderungen ungleich stärker als das Schweizer Bundesgericht. Sein Urteil ist bemerkenswert: Im Urteil geht es um das Recht einer sehbehinderten Frau, mit ihrem Blindenführhund die Räume einer Orthopädiepraxis als Durchgang zu benutzen, um Zugang zu ihrer Physiotherapie zu haben. Das Gericht hat ihre Beschwerde gegen das diesbezügliche Verbot mit dem Verweis auf ihre Autonomie gutgeheissen