Handicap und Politik 05/2024
Handicap und Politik 05/2024
In Handicap und Politik 05/2024: Der Rückblick auf die Herbstsession mit neuen Vorstössen, ein Kommentar zur inklusiven Bildung und ein kritisches Auge auf willkürliche IV-Gutachten.
Rückblick auf die Herbstsession: Nationalrat
Weiterhin keine Priorität bei der BehiG-Umsetzung
Der Nationalrat behandelte in der vergangenen Session das Geschäft 24.045 zur Finanzierung des Betriebs und Substanzerhalts der Bahninfrastruktur. Mit dem Entscheid gegen zusätzliche 500 Mio. CHF für den Bahninfrastrukturfonds können viele pfannenfertige Bahnhofumbau-Projekte zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) voraussichtlich bis 2028 nicht umgesetzt werden. Dies hatte Inclusion Handicap dem Nationalrat in einem Schreiben mitgeteilt und u.a. Nationalrat Islam Alijaj, Vorstandsmitglied von Inclusion Handicap, in der Debatte bekräftigt. Mit dem Negativentscheid hat der Nationalrat es verpasst, den Tatbeweis zu erbringen und gezeigt, dass für ihn die Umsetzung des BehiG nicht die notwendige Priorität hat. Dies, obwohl die Umsetzung schon jahrelang im Rückstand und die heutige Situation gesetzeswidrig ist. Inclusion Handicap wird sich im Hinblick auf die Ständeratsdebatte dezidiert dafür einsetzen, dass das notwendige Geld für alle baureifen Projekte doch noch gesprochen wird.
Nationalrat will IV-Abklärungen beschleunigen
Von der Anmeldung bei der IV bis zum definitiven Entscheid vergehen oft mehrere Jahre. Bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit führt das lange Warten ohne Einkommen häufig zu prekären Umständen: Allfällige Krankentaggeldleistungen sind meist schon seit langem ausgeschöpft, das persönliche Vermögen ist aufgebraucht. Die Betroffenen verschulden sich und sind schliesslich auf Sozialhilfe angewiesen. Der Nationalrat fordert deshalb mit einer Motion von Patricia von Falkenstein (LDP/BS) gegen den Willen des Bundesrats schnellere IV-Abklärungen sowie eine finanzielle Absicherung während der Abklärungsphase. Für Inclusion Handicap ist klar, dass der Ständerat diesem Entscheid folgen muss. Die belastende Situation führt bei Betroffenen in vielen Fällen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands. Eine Absicherung mittels Wartezeittaggeld sowie die Beschleunigung der Verfahren stellen eine notwendige Entlastung dar.
Massnahmen für eine inklusive Arbeitswelt gefordert
Mit einem neu eingereichten Postulat 24.4213 legt Gabriela Suter (SP/AG) ein Augenmerk auf die Förderung einer inklusiven Arbeitswelt. Sie beauftragt den Bundesrat, in einem Bericht zusätzliche Massnahmen für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den 1. Arbeitsmarkt zu untersuchen. U.a. fragt sie nach Möglichkeiten der Unterstützung für Arbeitgeber:innen sowie nach der Ausgestaltung verbindlicher Zielvorgaben. Das Postulat ist notwendig, weil viele Förderungsmassnahmen zur Arbeitsinklusion tief in den Kinderschuhen stecken und das Potenzial von Menschen mit Behinderungen als wertvolle Mitarbeiter:innen noch nicht anerkannt ist.
Disability Card für die europaweite Mobilität
Die Schweiz soll sich dem europäischen Standard angleichen und den Behindertenausweis für eine erleichterte Mobilität übernehmen – dies fordert das Postulat 24.3324 «Wann wird ein fairer Behindertenausweis auch in der Schweiz eingeführt?», welches durch Niklaus-Samuel Gugger (EVP/ZH) eingereicht und vom Nationalrat an den Bundesrat überwiesen wurde. Dieser ist nun dazu aufgefordert, in einem Bericht darzulegen, in welchen Schritten und bis wann die Schweiz die sogenannte Disability Card übernehmen könnte.
Sozialversicherungen
Weiterhin erschreckende Resultate zu IV-Gutachten
Der Schlussbericht zur Meldestelle für Opfer der IV-Willkür von Inclusion Handicap zeichnet ein erschreckendes Bild über das Gutachterwesen in der IV. Zwar zeigen im Rahmen der IV-Weiterentwicklung eingeführte Massnahmen eine gewisse Wirkung. Die Qualität der Gutachten und die darin gestellten Diagnosen sind jedoch weiterhin häufig nicht haltbar. Inclusion Handicap fordert klare Verbesserungen und eine lückenlose Aufklärung der Missstände.
Mit mehreren Vorstössen gegen die Willkür bei den IV-Gutachten
Die in der neuen SRF-DOK aufgezeigten grossen Probleme bei den Gutachten der PMEDA wirken sich dauerhaft und einschneidend auf das Leben vieler Betroffener aus. Der Bund ist deshalb gefordert, genauer hinzuschauen. Für Inclusion Handicap ist klar: Fälle, in denen ein Rentenanspruch gestützt auf ein PMEDA-Gutachten abgelehnt wurde, müssen neu aufgerollt werden. Eine Aufarbeitung der Missstände rund um die PMEDA fordern auch diverse parlamentarische Vorstösse:
LSE-Tabellenlohn: BSV schliesst leidensbedingte Abzüge ab 1.1.2024 aus
Inclusion Handicap berichtete am 08.08.2024 in einer News über ein wegweisendes Bundesgerichtsurteil zu den leidensbedingten Abzügen. Darin hält das Bundesgericht fest, dass auch mit den per 1.1.2022 revidierten Bestimmungen des Invalidenversicherungsgesetzes und der Invalidenversicherungsverordnung dem konkreten Einzelfall Rechnung zu tragen und vom LSE-Tabellenlohn gegebenenfalls ein leidensbedingter Abzug von bis zu 25 Prozent zu gewähren ist. Nun hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ein Rundschreiben (Nr. 445) publiziert. Darin anerkennt es die Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzugs für die Jahre 2022 und 2023, verweist für die Zeit ab 1.1.2024 aber auf den seither geltenden Pauschalabzug. Gemäss BSV-Rundschreiben soll das Bundesgerichtsurteil für Rentenansprüche ab 1.1.2024 keine Wirkung entfalten und es soll bei einem Abzug von maximal 20 Prozent bleiben. Für Inclusion Handicap ist die Interpretation des Bundesgerichtsurteils durch das BSV unverständlich. Aus der Sicht des Dachverbandes muss es das Ziel sein, das mögliche Einkommen einer Person mit Behinderung so realistisch wie möglich festzulegen, gestützt darauf den IV-Grad zu ermitteln und entsprechende Leistungen zu gewähren. Bei der Anwendung von LSE-Tabellenlöhnen braucht es daher auch ab dem 1.1.2024 die Korrekturmöglichkeit des leidensbedingten Abzugs.
Interpellation zum leidensbedingten Abzug eingereicht
Als Reaktion auf das Bundesgerichtsurteil zu den leidensbedingten Abzügen und das darauf folgende IV-Rundschreiben Nr. 445 stellt Nationalrat Christian Lohr (Mitte/TG) dem Bundesrat mit seiner Interpellation 24.3980 diverse Fragen. Sie zielen auch für Rentenansprüche ab 1.1.2024 auf eine mögliche Zulassung leidensbedingter Abzüge in der Höhe von max. 25 Prozent ab, wie dies auch Inclusion Handicap fordert.
Gleichstellung
Kommentar: Inklusive Schule führt nicht zu schlechteren Leistungen
Am Sonntag, 29.09.2024 wurde in zahlreichen Schweizer Medien über eine Umfrage zur integrativen Schule in den beiden Basel berichtet. Laut der Umfrage ist die integrative Schule gescheitert – die schulischen Leistungen würden immer schlechter und Kleinklassen gehörten an Sekundarschulen wieder flächendeckend eingeführt. Dabei basieren diese Ergebnisse alleine auf der Einschätzung der befragten Personen. Die tatsächlichen Schüler:innenleistungen wurden nie gemessen. Die Bildungsforschung zeigt ein anderes Bild: Schlechtere Leistungen durch inklusive Beschulung lassen sich empirisch nicht nachweisen. Warum die Stimme der Lehrerschaft sehr ernst genommen, die Umfrage aber kritisch betrachtet werden muss und warum die inklusive Schule nicht gescheitert ist, lesen Sie im Kommentar von Inclusion Handicap.
Politische Vorhaben
Postulatsbericht in Hinblick auf künftige Pandemien liegt vor
Mit u.a. dem Postulat 20.4253 von Maya Graf (Grüne/BL) war der Bundesrat dazu aufgefordert, in einem Bericht Strategien zum stärkeren Einbezug von Behindertenorganisationen und Dienstleistern aus Pflege und Betreuung bei der Vorbereitung auf und der Bewältigung von Pandemien darzulegen. Ein entsprechender Postulatsbericht liegt nun vor und ist der behandelnden Kommission zugewiesen.
Projekte
Inklusive Bildung im Rückstand
Der 13. Schweizer Kongress für Heilpädagogik zog Bilanz zu zehn Jahren Uno-Behindertenrechtskonvention. Auch das Projekt we claim von Inclusion Handicap war mit dabei: Im Referat «Das Recht auf Bildung in der UN-BRK» unterstrich Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap und Mitglied des Expert:innengremiums von we claim, die schwerwiegenden Diskriminierungen, mit welchen heute Kinder und Jugendliche in der Schule und im Rahmen ihrer Ausbildung konfrontiert sein können. We claim setzt sich dafür ein, dass solche Diskriminierungen vor Gericht gelangen. Laufend kommen neue Fälle dazu. Immer wieder werden auch wichtige Entscheide von den zuständigen Gerichten sowie spannende Medienberichte zu den Fällen kommuniziert. Abonnieren Sie hier den Newsletter von we claim, um in Zukunft nichts mehr zu verpassen.
Bunte Erinnerungen an den Einreichungstag
Die Einreichung der Inklusions-Initiative liegt bereits über einen Monat zurück. Der Verein für eine inklusive Schweiz hat die Höhepunkte von diesem historischen Tag in einem Video zusammengefasst. Auf der Webseite der Inklusions-Initiative finden Sie zudem weitere Erinnerungsstücke. Lassen Sie den Tag nochmals revue passieren - ob beim Schauen des Livestreams, dem Stöbern im Fanartikel-Shop oder beim Lesen der bestärkenden Redebeiträge der Sprecher:innen.