Recht auf Nachteilsausgleich gilt auch in der BerufslehreVerwaltungsgericht St. Gallen heisst Beschwerde gut
Das Verwaltungsgericht St. Gallen heisst die Beschwerde eines KV-Lernenden mit Dyslexie gut, dem ein Zeitzuschlag für Prüfungen in der Berufsschule verweigert wurde. Bereits im vergangenen Mai verzeichnete Inclusion Handicap im Fall von Marion Vassaux einen Etappensieg beim Nachteilsausgleich für den Numerus clausus. Die beiden Urteile sind ein wichtiges Statement für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.
Das kantonale Amt für Berufsbildung in St. Gallen verweigerte einem KV-Lernenden bei sämtlichen Prüfungen in der Berufsschule den von ihm beantragten Zeitzuschlag von 15% der regulären Prüfungszeit. Die Ablehnung des Nachteilsausgleichs erfolgte mit der Begründung, Lesen und Schreiben gehöre zu den elementaren und unentbehrlichen Grundfertigkeiten für den Beruf als Kaufmann EFZ. Deshalb dürften die Anforderungen für die Prüfung der Lese- und Schreibfähigkeiten nicht herabgesetzt werden. Mit Unterstützung von we claim, dem Projekt der strategischen Prozessführung von Inclusion Handicap, zog der KV-Lernende deshalb vor Gericht (mehr zum Projekt auf we-claim.ch).
Zeitzuschlag gleicht behinderungsbedingte Nachteile aus
Das Verwaltungsgericht St. Gallen hat die Beschwerde des Mandanten von we claim nun vollumfänglich gutgeheissen. In seinem Urteil hält es fest, dass mit dem Zeitzuschlag ausschliesslich die behinderungsbedingten Nachteile ausgeglichen werden, die zu einer verzögerten Umsetzung der ausbildungsrelevanten Fähigkeiten führen. Der KV-Lernende könne bei schriftlichen Prüfungen sein tatsächlich vorhandenes Wissen erst durch den Zeitzuschlag zeigen und nur so mit den anderen Berufsschüler:innen verglichen werden. Zudem zeige sich auch die Bankfiliale, wo der Jugendliche seine Lehre absolviert, äusserst zufrieden mit dem Lernenden. Weiter betont das Verwaltungsgericht St. Gallen nachdrücklich, dass das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) auf die Berufsbildung anwendbar und das Beschwerdeverfahren entsprechend kostenlos ist – die Vorinstanzen hatten vom Jugendlichen rechtswidrig Kostenvorschüsse verlangt und ihm Gerichtskosten auferlegt.
Nachteilsausgleich nach Fall Vassaux weiter gestärkt
Der Nachteilsausgleich ist heute rechtlich und in der Praxis breit anerkannt. Er soll die Chancengleichheit zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen gewährleisten. Im vergangenen Mai konnte mit dem Bundesgerichtsurteil im Prozess zum Fall von Marion Vassaux ein wichtiger Etappensieg für Nachteilsausgleich beim Numerus clausus in der Hochschulbildung erreicht werden (siehe auch Medienmitteilung vom 07.05.2024). In seinem Entscheid verweist das Verwaltungsgericht St. Gallen nun unter anderem auf das Bundesgerichtsurteil im Fall Vassaux. Mit dem Entscheid des St. Galler Gerichts wird der Anspruch auf Nachteilsausgleich auch im Bereich der Berufsbildung gefestigt – ein weiterer wichtiger Entscheid zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Schweizer Bildungssystem.