Willkürliche Gutachten: Mehr als EinzelfälleMeldestelle zu den IV-Gutachten: Zwischenanalyse (Medienmitteilung vom 03.10.2020)
Simulationsvorwürfe, 20-Minuten-Gespräche oder gar Beleidigungen – die Meldestelle von Inclusion Handicap zu den IV-Gutachten hat viele Missstände aufgedeckt. Über 250 Meldungen von Versicherten gingen ein. In vielen Fällen kann nicht von einer fairen Abklärung gesprochen werden. Der politische Dachverband der Behindertenorganisationen publiziert erste Resultate der Meldestelle, die nach wie vor aktiv bleibt.
Am 28. Februar dieses Jahres hat Inclusion Handicap eine Meldestelle eingerichtet: Opfer der Willkür bei den IV-Gutachten können Missbräuche durch die Gutachterinnen und Gutachter melden. 256 Versicherte machten nach sieben Monaten (Stichtag 28. September) eine Meldung, hinzu kamen 15 Meldungen durch Rechtsvertreterinnen sowie 33 von behandelnden Ärzten. Die Meldestelle ist als Online-Umfrage konzipiert, wo nach diversen Einschätzungen und Geschehnissen gefragt wurde. Verschiedene Medienberichte und die Erfahrung aus der Rechtsberatung von Inclusion Handicap zeigten auf, dass einige Gutachter die Arbeitsfähigkeit systematisch zu hoch einschätzen und dafür von den IV-Stellen immer wieder mit lukrativen Aufträgen belohnt werden.
53 Meldungen gingen ein, wonach die Gutachter die Versicherten zu 100 Prozent arbeitsfähig einschätzten, die behandelnden Ärztinnen aber eine Arbeitsfähigkeit von 0 Prozent attestierten. Diese Fälle zeigen die klare Tendenz der harten Gangart in den Gutachten auf.
20-Minuten-Gespräche entscheiden über Anrecht auf Renten
Ebenfalls besorgniserregend: 10 Versicherte melden, dass das Abklärungsgespräch nicht mehr als 20 Minuten dauerte. Es kommt also vor, dass ein 15-minütiges Gespräch dafür ausschlaggebend ist, ob jemand eine IV-Rente bekommt oder nicht, unabhängig davon, zu welchem Schluss der behandelnde Arzt gekommen ist. Solche Zustände sind für Versicherte schwer zu ertragen. Denn die IV-Stellen und die Gerichte folgen praktisch ausschliesslich den Gutachten. 20 Mal meldeten Ärztinnen und Ärzte, dass die Gutachten nicht dem medizinischen Standard entsprechen. Die überwiegende Mehrheit der Versicherten berichtet, dass die Diagnosen nicht oder nur teilweise übereinstimmen.
Mehr als die Hälfte der Begutachteten gab an, dass die Gutachtergespräche in schlechtem Klima stattfanden. Teilweise ist es gar zu Beleidigungen gekommen. Mehrmals meldeten die Versicherten, dass ihnen die Gutachter Simulationsvorwürfe unterstellen wollten. Oder die Gutachter wollten gar nicht wissen, welche Anforderungen ihr Beruf voraussetzt – eigentlich das A und O, wenn jemand die Arbeitsfähigkeit abklären will.
Qualität ist gefragt – Fälle müssen neu aufgerollt werden
Vorerst bleibt die Meldestelle von Inclusion Handicap aktiv. Der Dachverband der Behindertenorganisationen stellt folgende Forderungen:
- Die Behörden müssen die Qualität der Gutachten in jedem Fall sicherstellen. Fehlbare Gutachter gehören aus dem Verkehr gezogen.
- Fälle, bei denen Versicherte keine oder zu wenig IV-Leistungen erhalten haben, weil die Qualität der Gutachten nachweislich schlecht war, müssen neu aufgerollt werden.
- Alle Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden.
- Eine Drittperson soll beim Gutachtergespräch dabei sein. Die allermeisten Versicherten, die sich bei der Meldestelle gemeldet haben, stehen dem Vorschlag positiv gegenüber.
Mit der IV-Weiterentwicklung, die ab 2022 in Kraft treten soll, sind erste Verbesserungen geplant. So sind z.B. die Gutachtergespräche aufzunehmen. Inclusion Handicap ist gespannt, welche Erkenntnisse die externe Untersuchung zeigt, welche Bundesrat Alain Berset in Auftrag gegeben hat.