Behindertenverbände als Korrektiv wichtiger denn jeRevision Eisenbahngesetz und Dosto-Verfahren
Bern, 18.09.2023 - Mit dem neuen Eisenbahngesetz muss niemand mehr prüfen, ob ein Zug für Menschen mit Behinderungen ohne fremde Hilfe benutzbar ist. Dies entgegen allen Beteuerungen von Bundesrat Rösti und dem Bundesamt für Verkehr. Zudem verlieren die Behindertenorganisationen ihr Verbandsbeschwerderecht, obschon es die Verbände als kritisches und hartnäckiges Kontrollorgan offensichtlich mehr denn je braucht. Menschen mit Behinderungen können sich nicht auf den Goodwill der Behörden verlassen, wie neuste Ereignisse zeigen.
Menschen mit Behinderungen sollen den öffentlichen Verkehr in der Schweiz gemäss Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) autonom benutzen können. Das Bundesgericht hatte in seinem Dosto Urteil vom 22.12.2021 festgehalten, dass das Bundesamt für Verkehr BAV bei einer Fahrzeugzulassung zu überprüfen hat, ob Personen mit Behinderungen einen Zug tatsächlich ohne Hilfe benutzen können. Letzte Woche besiegelte der Nationalrat als Zweitrat die Revision des schweizerischen Eisenbahngesetzes. Mit dieser Revision hebelt die Schweiz ihr eigenes Behindertengleichstellungsrecht aus.
Autonome Nutzbarkeit wird nur noch rudimentär überprüft
Mit der Revision verlieren die Behindertenorganisationen ihr Verbandsbeschwerderecht mit Bezug auf Eisenbahnfahrzeuge. Zudem hat das Parlament das Eisenbahngesetz so geändert, dass bei der Zulassung von neuen Zügen die zuständigen Behörden, konkret die Europäische Eisenbahnagentur ERA und das BAV, faktisch nur noch rudimentär überprüfen, ob ein Zug für Personen mit Behinderung wirklich ohne fremde Hilfe benutzbar ist. Dies entgegen den Zusicherungen von Bundesrat Rösti, der in der Debatte wiederholte, die Autonomie von Menschen mit Behinderungen werde auch mit dem neuen Gesetz vollumfänglich gewährleistet. Dem ist offensichtlich nicht so: Ob zum Beispiel Personen im Rollstuhl wegen einer Hindernisabfolge im Eingangsbereich eines Zuges (Lücke zwischen Fahrzeuge und Perron, Kante, Rampe) kippen könnten, wird mit dem neuen Gesetz nicht mehr untersucht.
Behindertenverbände als Korrektiv mehr denn je gefordert
Genau solche Aspekte können aber dazu führen, dass Personen im Rollstuhl einen Zug nicht autonom benutzen können, wie das Dosto-Verfahren zeigt: Durch die Beschwerde der Behindertenorganisationen wurden die Probleme im Eingangsbereich der Züge überhaupt erst ins Licht gerückt. Das Bundesgericht ordnete daraufhin dem BAV an, konkret zu prüfen, ob Personen im Rollstuhl tatsächlich alleine ein- und aussteigen können. Wie wenig jedoch das Amt bereits unter altem Recht daran interessiert ist, herauszufinden, wie die Realität von Menschen mit Behinderungen aussieht, zeigte sich bei den kürzlich in seinem Auftrag durchgeführten Tests: Personen ohne Behinderungen wurden in Rollstühle gesetzt, die höchstens für kurze Strecken in Spitälern verwendet werden (siehe Tagesschau vom 16.09.2023). Wie die Videos zeigen, mussten diese Testpersonen ohne Behinderungen Körperteile sowie Muskeln einsetzen, die von Menschen mit Behinderungen im Rollstuhl so nicht eingesetzt werden können. Nur mit grösster Mühe gelang es ihnen, in den Zug einzusteigen. Ungeachtet dessen schliesst die Untersuchung, für geübte behinderte Personen im Rollstuhl sei der Einstieg in die Dosto-Züge und der Ausstieg daraus keine Herausforderung.
Dieses Jahr läuft die 20-jährige Frist zur Umsetzung eines barrierefreien öffentlichen Verkehrs ab (Art. 22 BehiG). Die Umsetzung ist bei weitem nicht dort, wo sie stehen sollte. Es müssen neue verbindliche Regelungen und eine griffige Kontrolle vorgesehen werden, zu der auch das Verbandsbeschwerderecht der Behindertenorganisationen gehört. Inclusion Handicap fordert dies mit Nachdruck ein, insbesondere auch im Rahmen der zurzeit laufenden BehiG-Revision.