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Bildungsforschung zeigt: inklusive Schule führt nicht zu schlechteren LeistungenKommentar: Umfrage zu inklusiver Schule in den beiden Basel

Die schulischen Leistungen würden immer schlechter und Kleinklassen gehörten an Sekundarschulen wieder flächendeckend eingeführt. So lauten zentrale Ergebnisse einer Umfrage des Vereins «Starke Schule beider Basel». Die Umfrage wurde am 29.09.2024 von verschiedenen Schweizer Medien aufgenommen. Inclusion Handicap ist in regelmässigem Austausch mit Fachpersonen bezüglich aktueller Forschungsergebnisse zu inklusiver Bildung und hat die Umfrageergebnisse mit Ergebnissen aus der Bildungsforschung abgeglichen. Es wird klar: Schlechtere Leistungen durch inklusive Beschulung lassen sich empirisch nicht nachweisen. Ein kritischer Umgang mit den Umfrageergebnissen ist deshalb angezeigt.

Die integrative Schule sei gescheitert, meint der Verein «Starke Schule beider Basel», der sich schon in der Vergangenheit kritisch gegen das Modell der integrativen Schule ausgesprochen hat. Durch die integrative Schule würden die Leistungen immer schlechter, Lernwirksamer Unterricht sei deshalb nur mit Kleinklassen möglich. Die Aussagen basieren ausschliesslich auf der Einschätzung der vom Verein in einer Umfrage befragten Personen. Zu den befragten Personen gehörten überwiegend Lehrer:innen, aber auch zahlreiche Eltern von schulpflichtigen Kindern, mehrere Schulleiter:innen, vereinzelt Schüler:innen sowie Landrät:innen und Grossrät:innen. Die tatsächlichen Leistungen von Schüler:innen wurden im Rahmen der Umfrage jedoch nie gemessen. Ein Blick in die Bildungsforschung, wo Kriterien wie Transparenz, Objektivität und Überprüfbarkeit gelten, lässt hingegen ganz andere Schlussfolgerungen als die des Vereins zu. Nach den Ergebnissen der PISA-Studie der letzten Jahre ist das Abschneiden der Schweiz allgemein als gut und über dem OECD-Durchschnitt zu interpretieren. Anders als bei Vergleichsländern wie etwa Deutschland, Belgien oder Finnland, wo sich die durchschnittlichen schulischen Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften seit 2015 konstant verringern, fand in der Schweiz im Bereich der Naturwissenschaften gar eine Trendumkehr hin zu besseren Leistungen statt. Ohnehin sind die Veränderungen über die Zeit in der PISA-Studie geringfügig, sodass sich die Wahrnehmung von immer schlechter werdenden schulischen Leistungen empirisch nicht erhärten lässt. 

Separative Lernsettings erschweren Entwicklung und berufliche Integration

Laut einigen Rückmeldungen zur Umfrage des Vereins schade die integrative Beschulung Lernenden ohne besonderen Bildungsbedarf. Dies lässt sich nicht mit Befunden aus der Forschung der letzten Jahre stützen. Verschiedene neuere Meta-Analysen und systematische Reviews (z. B. Szumski et al. 2017; Krämer et al. 2021; Dalgaard et al. 2022), welche nach etablierten und nachvollziehbaren Methoden Befunde diverser Studien zusammenfassen, zeichnen ein differenzierteres Bild der Chancen und Gefahren der inklusiven Schule. Während die Mehrheit der berücksichtigten Studien nicht nachweisen kann, dass sich die Inklusion von Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf nachteilig auf die schulischen Leistungen von Lernenden ohne besonderen Bildungsbedarf auswirkt, legt die Forschung nahe, dass Lernende mit besonderem Bildungsbedarf in vielerlei Hinsicht von der integrativen Schule profitieren. Im Gegensatz dazu sind Lernende in separativen Settings wie Kleinklassen oder Sonderschulen erheblichen Hindernissen ausgesetzt, die ihre schulische Leistungsentwicklung und den Erfolg ihrer beruflichen Integration schmälern. Die überwiegend negativen Wahrnehmungen, die in der Befragung des Vereins «Starke Schule beider Basel» zum Ausdruck kommen, gilt es ernst zu nehmen. Jedoch ist es kaum vorstellbar, dass sich die geäusserten Wahrnehmungen auf die gesamte Bildungslandschaft der Schweiz übertragen lassen. 

Kritischer Umgang mit Umfrageergebnissen angezeigt

Mit Blick auf die oben dargestellten Forschungsergebnisse ist ein kritischer Umgang mit den Umfrageergebnissen dringend angezeigt. Die wenig differenzierte Betrachtung, z. B. in der SonntagsZeitung bzw. im Tages-Anzeiger, (externer Link) verdeutlicht ein zentrales Problem, das der kürzlich wieder aufgeflammten Debatte über den Zustand der inklusiven Schule innewohnt: Um die Effektivität der inklusiven Schule umfassend beurteilen und diskutieren zu können, braucht es vermehrt Forschung, die nicht nur methodisch korrekt vorgeht, sondern auch den spezifischen Umständen an Volksschulen in der Schweiz Rechnung trägt. Eine Abkehr vom Modell der inklusiven Schule lässt sich nach derzeitigem Kenntnisstand der Forschung jedoch nicht begründen. 

Notwendige Rahmenbedingungen schaffen

Art. 24 Abs. 1 der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) verpflichtet die Schweiz, auf allen Ebenen ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Zudem gewährt Art. 24 BRK einen individuellen Anspruch auf inklusive Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit. Dies umfasst das Recht, nicht separiert zu werden. Es beinhaltet zudem auch das Recht, im Rahmen der Verhältnismässigkeit, die notwendige individuelle Unterstützung zu erhalten. Die oben dargestellten Forschungsergebnisse zeigen, dass es keinen Zielkonflikt zwischen der Umsetzung der BRK-Verpflichtungen und einer guten Schule für alle gibt. Gleichzeitig ist die Sicht der Lehrerschaft sehr ernst zu nehmen, denn gelebte Inklusion gelingt nur, wenn den Lehrer:innen die notwendigen Ressourcen und benötigten Instrumente zur Verfügung gestellt werden. Die Mittel, um diese notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, wurden bis jetzt aber nicht bereitgestellt. Das Projekt der inklusiven Schule ist deshalb nicht gescheitert – es wurde hingegen noch gar nicht richtig gestartet. Inclusion Handicap fordert weiterhin einen Ressourcentransfer von den Sonderschulen hin zu den Regelschulen und dass die Schweiz ihren Verpflichtungen, die sie mit der Ratifizierung der UNO-BRK eingegangen ist, endlich nachkommt.

Weiterführende Literatur

Krämer, S., Möller, J., & Zimmermann, F. (2021). Inclusive education of students with general learning difficulties: A meta-analysis. Review of Educational Research, 91(3), 432-478. 

Dell’Anna, S., Pellegrini, M., Ianes, D., & Vivanet, G. (2022). Learning, social, and psychological outcomes of students with moderate, severe, and complex disabilities in inclusive education: A systematic review. International Journal of Disability, Development and Education, 69(6), 2025-2041. 

Kart, A., & Kart, M. (2021). Academic and social effects of inclusion on students without disabilities: A review of the literature. Education Sciences, 11(1), 16. 

Dalgaard, N. T., Bondebjerg, A., Viinholt, B. C. A., & Filges, T. (2022). The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs. Campbell Systematic Reviews, 18(4). 

Szumski, G., Smogorzewska, J., & Karwowski, M. (2017). Academic achievement of students without special educational needs in inclusive classrooms: A meta-analysis. Educational Research Review, 21, 33–54. 

Balestra, S., Eugster, B., & Liebert, H. (2022). Peers with special needs: Effects and policies. Review of Economics and Statistics, 104(3), 602-618.